piwik no script img

Ich habe alle Farben und Bilder im Kopf, das kann man laut sagen

Dieter Körner hat als Kind den Zweiten Weltkrieg miterlebt. In DDR-Zeiten arbeitete er auf dem Schlachthof. Heute geht er gern Kaffee trinken und spazieren – denn das stärkt die Augen

Von Dieter Körner

Ich habe sieben Geschwister. Ich bin aus Berlin und 1935 geboren. Als ich klein war, bin ich mit meiner Mutter spazieren gegangen, ich bin immer viel spazieren gegangen, das stärkt die Muskeln und die Augen. Man sieht viel, zum Beispiel Bäume.

Kann man sagen, dass die Bäume wichtig sind? Man muss es sagen! Wegen dem Sauerstoff, den machen die Bäume aus dem Qualm in der Stadt, auch von den Autos. Geraucht hab ich immer, kann man ja machen, ist sogar wichtig. Jetzt gibt es mehr Bäume als früher in Berlin.

Meine Mutter hat mich damals absichtlich in einem Krankenhaus gelassen, ich wurde untersucht, vor allem die Augen. Stillsitzen musste ich, mehr weiß ich nicht. Aber ich kann drei, vier Kilometer weit sehen, kein Problem.

Wie ich dann nach Hause gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Mit einer Polizeiparade vielleicht, die hatten eine Wache in der Danziger Straße und haben mich mitgenommen.

Wir haben in der Ostseestraße gewohnt. Mein Vater war Elektriker und auf Montage und kam nur zu Besuch und blieb später im Westen. Dann kam einer, der spielte den Vater, war es aber nicht. Meine Mutter war Näherin, Spezialistin und hat sich gekümmert. Alle anderen sind weg, ich bin geblieben. Wir hatten zwei Zimmer, eins für die Kinder, eins für Mutter.

Ich war im Kindergarten und später in der Schule in der Dunckerstraße, dritter Stock, Hilfsschule. Einen Schulfreund hatte ich auch, Horst M.

Warum ich dort war, hat mir keiner gesagt, aber die Lehrer waren freundlich und streng. Sie haben mir so manches beigebracht, Lesen, Rechnen, alle Dinge, auch Kunstmaler.

Ich war nie in einem Heim oder so, einmal hat eine Ärztin zu meiner Mutter gesagt: „Den Dieter nehmen wir mit, der muss untersucht werden!“

Manchmal war ich in Fürstenwalde bei meiner Tante. Dort gab es Karnickel, die waren bald einen Meter groß. Dass es so etwas gibt. Manchmal habe ich bei Frau Malicke gewohnt. Aber ich bin immer zu meiner Mutter zurückgekommen.

Es gab auch Krieg und Bomben, dann sind wir in den Keller. Das war ein Lärm! Und warum pfeifen die Bomben? Das kann man nicht wissen! Die pfeifen, und wir sind unten und sehen nix! Die Nazis hab ich dafür aber gesehen, mit Uniform und Fahnen, aber ich durfte nicht mitlaufen. Dann war der Krieg aus und die Russen da. Russisch kann ich auch: Добрый день!, один, два, три, мама, Я люблю тебя(Guten Tag! Eins, zwei, drei, Mama, ich liebe dich).

Frau Malicke hat mich mit ins Bett genommen, wenn ich bei ihr war, das waren so Geschichten … Es gab aber auch Kaffee und Kuchen und Küsschen, aber ich bin zurück zu Mutter.

1951 habe ich auf dem Schlachthof angefangen, in der Darmspülerei. Geld habe ich auch verdient; wie viel, kann ich nicht sagen. Ich habe auch mal Wurst gemacht, aber meistens Därme gespült auf dem Schonplatz. Rinderdärme, Schweinedärme, haben wir geschleimt, alles.

Ich hätte lieber was in der Verwaltung gemacht und geschrieben. Das mache ich gern, 16 bis 18 Seiten schreiben, kein Problem, oder Schriftsteller, auch ein schöner Beruf.

Aber die vom Schlachthof waren freundlich, oder sagen wir mal so: Die waren groß, und mit denen haben wir getrunken. Schampus und solche Sachen. Ich war ja immer einkaufen für Mutti, da gab’s auch Bier.

Vor ein paar Tagen ist Mutter dann gestorben, da waren dann aber alle schon weg. Man weiß nicht, warum, das ist ja die Scheiße. Muss mal so gesagt werden!

Meine Geschwister hab ich nicht mehr gesehen, es gibt aber noch welche. Die haben alle Wohnungen gekriegt. Einzimmerwohnungen, Zweizimmerwohnungen, aber auch Häuser und sogar Geschäfte. Die Gisela war Verkäuferin im Konsum. Einmal haben wir meine Schwester auf der Straße getroffen, und wenn man in Weißensee spazieren geht und leise ist, kann man meinen Bruder sehen, der wohnt da.

Ich hab ja nie woanders gewohnt. Irgendwann war der Schlachthof zu und ich bin zu Hause geblieben.

Dann ist Renate K. gekommen, die kannte ich, und hat gesagt, wir gehen aufs Amt, da gibt es Geld. Es war das andere Geld, gibt’s jetzt auch nicht mehr. Braucht man Geld? Jawohl! Man muss ja einkaufen, Brot und Schnaps auch.

Die Renate, die war auch so ein Pfläumchen, wie die Christel vom Schlachthof, wir haben so allerlei zusammen gemacht. Gibt es alles!

Die Dora wollte auch mitkommen zu meiner Mutter, aber die war so groß. Die Arbeitskollegen waren ja alle untereinander verliebt.

Es gab auch mal einen Richter, der kam und wollte meine Muskeln sehen. Gibt es das, dass ein Mensch Kräfte hat wie ich? Der Richter wollte, dass ich in ein Krankenhaus gehe, weil ich zu wenig esse, aber das konnte ja nicht sein. Er ist dann gegangen und hat einen Brief geschrieben.

Die Frau Salomon kam deswegen und kümmerte sich um allerhand, und später bin ich dann nach Moabit in ihr Büro einmal im Monat.

Ich bin viel untersucht worden in meinem Leben, von Doktoren und Professoren, wegen meiner Körperwärme, ich musste immer viele Wickel tragen. Ich habe auch viel geschrieben, Briefe und Bücher und viel ferngesehen. Ich bin Künstler, Wissenschaftler, Architekt und manches andere. Jetzt aber Ruhe davon!

Ich habe den Haushalt immer selbst besorgt, Mutter hat mir’s beigebracht. Ich habe alles so gemacht, wie sie es mir gezeigt hat. Irgend­wann war sie nicht mehr da; wohin sie gegangen ist, weiß ich nicht.

Ich bin in der Wohnung geblieben. Ich bin gut zurechtgekommen, hatte ja auch einen Haushaltstag, bin einkaufen gegangen und zur Arbeit. Ich hab auch Lotto gespielt und 60 Mark gewonnen.

Ich kann ja alles. Trotzdem sollten mir Betreuer helfen. Es wurde ja auch vieles anders, die Autos, Geschäfte und alles. Dann kam die Kleine und so manche andere, mit denen bin ich spazieren gegangen und hab ihnen geholfen beim Einkaufen, bin zu den Ärzten gegangen. Wir haben viel gemalt. Ich habe alle Farben und Bilder im Kopf, das kann man laut sagen. Den Rest weiß ich nicht mehr.

Später musste ich umziehen, die Betreuer sagten, ich hätte zu viel Wasser laufen lassen, aber das musste ich ja, um die Rohre zu beruhigen. Wasser muss fließen, das ist wichtig. Und das Wetter muss man ändern, haben sie im Radio gesagt. Die sind gut, was, wie soll das denn gehen? Die Tiere, die könnten das deichseln …

Ich bin dann umgezogen, jetzt wohne ich mit Alfred zusammen in Kreuzberg. Vermissen tue ich eigentlich niemanden. Wir kriegen viel Besuch und gehen zusammen spazieren oder Kaffee trinken.

So, Schluss! Ich bin jetzt über 80 Jahre alt und hab genug erzählt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen