: Rummel ums Alleinsein
Das Jahrmarkttheater im Dorf Wettenbostel in der Lüneburger Heide lädt zum „Jahrmarkt der Einsamkeit“. Leider werden die Facetten des Verlassenseins nicht wirklich ausgeleuchtet
Von Jens Fischer
Die digitalen Welten herunter- und in einem Anfall von Landlust hinausfahren ins analoge Idyll der Lüneburger Heide. Wellness fürs Gemüt. Dazu Picknick für den Gaumen, ein bisschen Drama für den Geist und Musik für die Seele – das sind seit elf Jahren die Versprechen des Jahrmarkttheaters für ihre Sommerbespielung eines Bilderbuch-Hofes in Wettenbostel, Kreis Uelzen.
Schon eine Stunde vor Aufführungsbeginn sind Käsewürfel ausgepackt, Baguettes gebrochen, Oliven aufgespießt und fleischliche Verlockungen des Grillmeisters gierigen Bissen preisgegeben. Aber etwas ist diesmal anders. „Auf die Einsamkeit“ stoßen Besucher an – sichtlich verunsichert, wie der künstlerische Hauptgang zu all den Vorspeisen passen soll. Bisher wurden Shakespeare, Goldoni oder aus der Feder des Theaterchefs Thomas Matschoß etwas mit viel Liebesmacht und Beziehungsknatsch geboten. Jetzt ist ein „Jahrmarkt der Einsamkeit“ angekündigt.
„Das weckt Widerstände, schreckt viele ab, sie fürchten, das ginge ihnen zu nahe, wollen sich damit an einem Theaterabend nicht beschäftigen“, erzählt Bühnenbildnerin Anja Imig. Folge: Waren 2017 für die Hochzeitskomödie „Erfindung der Liebe“ die Tickets aller Aufführungen schon vor der Premiere ausverkauft, wären die Macher dieses Jahr froh, wenn sie mit einer schwarzen Null abschließen können.
Sanftmütig zum Publikum
Die Relevanz des Themas ist offensichtlich. Einsamkeit ist zwar keine offiziell anerkannte Krankheit, aber in einer repräsentativen Studie der Bochumer Psychologin Maike Luhmann ist zu lesen, 20 Prozent der über 85-jährigen und auch 14 Prozent der 26- bis 35-jährigen Deutschen fühlten sich verloren, ausgegrenzt, abgeschoben, ignoriert, übersehen – also einsam. Tendenz steigend.
Sanftmütig wird das Problem ans Publikum herangetragen. Matschoß hat da Erfahrung. Drei Tage im Juni schipperte er auf der Fähre „Tanja“ bei Neu Darchau hin und her über die Elbe und interviewte Passagiere nach Einsamkeitserlebnissen. Nun schleicht er sich für den ersten Akt des Abends im rot-weißen Clownskostüm in die mümmelnden Grüppchen der Sommerabendgenießer und fragt mit dem Charme der Empathie mal direkt nach: „Wie lange kommen Sie gut alleine mit sich klar, also auch ohne Telefonieren, Chatten und Whatsapp?“ Auch Orte und Lebenssituationen werden erkundet, an denen das bedrückende, beängstigende, ausweglose Gefühl der Einsamkeit erlebt wurde.
Zu hören ist von Zeiten in Kinderheimen oder einem stecken gebliebenen Fahrstuhl, es geht um das Grab eines Freundes oder bange Stunden kopfüber im Magnetresonanztomografen. Matschoß moderiert die Gespräche auf seine Idee zu, Einsamkeit sei das „widersprüchlichste aller Gefühle“. Als unfreiwilliges Alleinsein stehe es für Trauer, Trennung, Leid, Schrecken, soziale Isolation und könne zu Depression und Selbstmord führen – als freiwilliges Sich-selbst-genug-Sein stehe es für Hoffnung, Zufriedenheit, mache glücklich und frei.
Mit dem Roy-Orbinson-Hit „Only the lonely“ lockt das Ensemble in den zweiten Akt zur trubeligen Rummelplatzinszenierung auf den „Glückswachstumsgebiet“ genannten Voltigierplatz des Hofes. Zwischen frei flottierendem Publikum werden sieben Minizelte bespielt. In der „Endbude“ ist die ewige Einsamkeit zu testen: Probeliegen in einem Sarg. Wer dem Betreiber der „Schießbude“ die Melone vom Kopf wirft, bekommt als Preis ein Einsamkeitsvertreibungslied vorgesungen. In der „Spielbude“ rezitiert die Kasperpuppe das „Einsamkeit“-Poem Rilkes.
Schade nur, dass die fürs Theaterprojekt reizvolle Vorgeschichte der Zelte nur auf Texttäfelchen und mit einigen Fotos angedeutet, nicht zentral in diesen nostalgischen Jahrmarktbudenzauber integriert ist. Als Bühnen waren sie an Künstler zur Einsamkeitsrecherche verliehen worden. Ein Theatermacher lebte darin beispielsweise eine Woche im Wald – um der Natur zuzuhören. Auf den zwei Quadratmetern kreierte eine Choreografin ihre Tänze der Befreiung. Verlorene Liebesmüh’ – was den Jahrmarkt der Einsamkeit betrifft.
Stattdessen wird es grundsätzlich. In einer Moritat sind die drei Kränkungen des modernen Menschen zu vernehmen: die Vertreibung aus dem Zentrum des Kosmos durch Kopernikus, den Verlust der Schöpfungskrone dank Darwin und die Freud’sche Erkenntnis, nicht mal Herr im eigenen Haus, sondern Spielball von ordnungsfanatischem Über-Ich und anarchischem Es zu sein. Und kein Gott, nirgends.
So philosophisch eingestimmt geht’s zum dritten Akt in die Reithalle. Auf der Strohballenbühne kündigt der Conferencier (Kabarettist Axel Pätz) die „Greatest Show of Loneliness“ an. Drei Viertel der Revue bestehen aus Musiknummern, die lediglich Pop-, Rock-, Schlagerklischees reproduzieren. Bis auf eine witzige Blues-Nummer bleiben die Darbietungen kompositorisch, textlich und leider auch gesanglich recht blass.
Was schade ist, denn die Musiker sind formidabel, wie sie schon mit der Ouvertüre zeigen – nämlich auf rockigen Abschlägen des Schlagzeugers euphorisch losjazzen. Zwischen den Songs inszeniert Regisseur Barry Goldman ein Treffen der Anonymen Einsamen. Eine Altenpflegerin tritt auf, die abends völlig ausgepowert in der Ruhe ihrer menschenleeren Wohnung versinkt, nachdem sie den ganzen Tag über Senioren betreute, für keinen mehr Zeit als sieben Minuten.
Da könnte ein Theaterabend mal genauer hingucken. Auch auf die frisch Geschiedene, die sich nicht ins Leben stürzt, sondern einen Hund kauft – oder eine Katze. Leider werden diese und weitere Beispiele aber nur ironisch ins Stereotypische gedreht und spaßig als eine Art Freakshow serviert.
Schließlich fallen Höhepunkt und Finale der Aufführung zusammen. Ein Astronaut verliert in der endlos scheinenden Weite des Universums den Bezug zu Zeit und Raum und seinem Ego: löst sich allmählich in der Einsamkeit auf. Für diesen Zustand wahrer Leichtigkeit setzt die Band endlich auf Klangkunst und webt einen fragilen Science-Fiction-Soundtrack, während die besten der 40 Lichtstimmungen des Abends gezündet werden.
Mit ein paar Magiertricks illuminiert schließlich der einsamkeitsglückselige Harry, das stumme Faktotum der Show, noch die Szenerie. Kann aber nicht den Eindruck hinfortzaubern, dass der Abend vor allem Facetten der Einsamkeit lustig anstrahlt, anstatt sie auf verschiedenen Ebenen auszuleuchten.
Sa/So, 11.+12. 8., 19.30 Uhr, Theater Wettenbostel, Wriedel; weitere Termine: 17.–19. + 25. 8.; Infos: jahrmarkttheater.de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen