Auf ins Hinterland: Vergesst den Strand!

Der Strand ist die größtmögliche Schnittmenge deutschen Urlaubsbegehrens. Dabei lohnt sich eine Drehung um 180 Grad.

Blick über Dächer und grünes Land, am Himmel rosfarbene Wolken

Natur und so gut wie keine Menschen, erst recht keine nackten und eingeölten Foto: Łukasz Czechowicz / Unsplash

Freunde des MARE NOSTRUM, gerade ihr wisst, wie es in Wahrheit bestellt ist um die mal sandig, häufig aber auch einfach nur steinig ausfransenden Ränder des Kontinents. Am Ende der Landzunge und des Tages geht es dort nur bedrängt zu – was auch nicht verwunderlich ist. Wenn alle auf der einen Bank am See im Stadtpark sitzen wollen, sieht es dort recht bald so aus wie am Strand von Pampelonne.

Der Strand, das ist die größtmögliche Schnittmenge deutschen Urlaubsbegehrens. Wer derzeit die sozialen Medien konsultiert, wird mittels Strandbildern nahezu in die Verzweiflung getrieben. Ostseestrand mit gestreiften Windschutzwänden, Mittelmeerstrand mit gebräuntem Wellfleisch, Atlantikstrand mit Kühen.

Und dann auch noch all die Filter, mit denen auf Instagram die Strandfotos bearbeitet werden und die Reyes heißen oder Juno, Slumber, Crema. Ludwig, Aden, Perpetua, Amaro – warum eigentlich Ludwig? Von den Sonnenuntergängen in der Filterverfremdung ganz zu schweigen.

Parkplatznot und Handtuchtrouble

Ja klar, so ein schöner Tag am Strand. Erst gibt es keinen Parkplatz, und hat man dann einen, sind alle anderen schon da und haben den letzten Quadratzentimeter Stein/Sand mit Frotteehandtüchern belegt. Aber dahin und bis zu dieser Erkenntnis muss man erst mal kommen.

Kilometerlange Dünen sind zu durchwandern, als ob man Karawane gebucht hätte. Steilküsten sind hin­abzuklettern, als sei man Bergziege. Und endlose, mit schwersten Brocken und zerklüfteten Kaventsmännern belegte Steinpisten müssen durchquert werden, bis endlich das Ziel erreicht und das Schuhwerk ruiniert ist – denn Strand ist ja nicht Strand. Die Leute müssen zum Familien­strand, Kinderstrand, Jugendstrand, Hundestrand, Nacktstrand, Nackt- und Hundestrand sowie zum schwulen Nacktstrand mit oder ohne Hunde (meistens ohne).

Wie es dort weitergeht, ist bekannt: Haben Sie ein Stückchen Sand erwischt, können Sie erst mal die Kippen und den restlichen Müll Ihrer Vorgänger vom Vortag ausgraben. Auch ist längst Gemeinplatz, dass heutige portable Lautsprechersysteme mit einer Akku-Laufzeit von bis zu acht Stunden weitaus leistungsfähiger sind als einst der Grundig „Yachtboy“. Dann noch Sandkäfer, Blaualgen, Feuerquallen und Katzenhaie – Sie wissen schon.

„the Hinterland“

Nach diesem Horrortrip sind Sie bereit für einen Perspektivwechsel. Wenn Sie irgendwo eingequetscht am Strand stehen, dann drehen Sie sich einfach kurz um 180 Grad. Wenden Sie Ihren Blick für einen Moment vom verschmutzten und verölten Küstenmeer und entdecken Sie, was hinter den Dünen oder der Steilküste liegt: das Hinterland! Oder auch „the Hinterland“, wie man in ­angloamerikanischen Kreisen sagt.

Falls Ihnen eine Bettenburg im Weg steht und Sie partout nichts sehen können: Schnappen Sie sich Ihr Fahrzeug – ein Fahrrad wäre erstrebenswert – und fahren Sie einfach los, so schnell es geht und so weit weg von der Küste wie nur irgend möglich.

Sie werden ein Wunder erleben, wenn auch nicht in Blau: Natur und so gut wie keine Menschen, erst recht keine nackten und eingeölten. Man sieht ab und zu vielleicht eine Ziege oder ein Schaf. Womöglich eine schwarzweiß gefleckte Kuh, wenn Sie an der Ost- oder Nordsee sind. Man hört Zikaden oder Pferdebremsen zirpen und summen.

Hier gibt es nun lauschige Dörfchen und kleine Städtchen, in denen es – man fasst es nicht – kleine Restaurants und Cafés gibt, in denen nicht Pizza-Pasta-Burger, sondern ein ordentlicher Mittagstisch serviert wird. Man kann in schattigen Hofeinfahrten sitzen und gekühlten Rosé zu vernünftigen Preisen konsumieren. Die Menschen sind freundlich und zugewandt und nicht habgierig-abgestumpft oder sonst wie moralisch ruiniert von den Folgen des Massentourismus.

Mittagessen für sieben Euro

Es gibt hier so viele unglaubliche Dinge. Gestüte. Kirchen. Friedhöfe. Weingüter, bei denen man sich durchprobieren kann – wer braucht da noch einen Eimer voll Sangria?

Wer Karten lesen kann, findet mit Glück saubere Flüsse, die auf Ihrem Weg zum ja noch immer nahen Meer sind – und Seen, in denen niemand schwimmt, weil alle doch am Strand sind.

Sogar an solchen Orten, die absolut verschrien sind aufgrund der touristischen Massen, die sich in der Saison durch sie wälzen, funktioniert der Hinterland-Trick ganz hervorragend. Auf Mallorca etwa: mit Einheimischen zusammen, Tisch an Tisch, zu Mittag essen für sieben Euro, Hauswein vom benachbarten Winzer inklusive? Kein Problem. Es gibt dort überall Örtchen mit bezaubernden kleinen Cafés, in denen man von älteren Frauen hinter dem Tresen einen wunderbaren Cortado gebraut bekommt. Ich sage aber nicht, wo.

Die Freiheit und den Frieden, die der Urlauber sucht – im Hinterland ist das zu haben. Das Paradies ist gleich nebenan. Also: gleich da hinten.

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* 21. Februar 1973 in Wittlich; † 26. Mai 2023 in Berlin, war Redakteur der taz am Wochenende. Sein Schwerpunkt lag auf gesellschaftlichen und LGBTI-Themen. Er veröffentlichte mehrere Bücher im Fischer Taschenbuchverlag („Generation Umhängetasche“, „Landlust“ und „Vertragt Euch“). Zuletzt erschien von ihm "Die Kapsel. Aids in der Bundesrepublik" im Suhrkamp-Verlag (2018). Martin Reichert lebte mit seinem Lebensgefährten in Berlin-Neukölln - und so oft es ging in Slowenien

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