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Das gestohlene Lachen der kleinen Talia

Wer in Mathare aufwächst, einem verrufenen Slum in Kenias Hauptstadt, hat wenig Chancen. Nirgends fordert Polizeigewalt mehr Opfer. „Gott wird mich schützen“, hofft ein Aktivist

Aus Nairobi Ilona Eveleens

Talia scheint nie zu lächeln. Nicht wenn man mit ihr spielt, nicht wenn sie gekitzelt wird und auch nicht, wenn sie Joghurt bekommt, eine seltene Leckerei für sie. Das einjährige Mädchen hat meistens ein bedrücktes Gesicht. „Vielleicht spürt sie meine Traurigkeit. Ich versuche aber immer, heiter in ihrer Umgebung zu sein“, sagt ihre Mutter Lucy Wamboi.

Lucy Wamboi ist 26 Jahre alt – und Witwe. Der Vater des Mädchens, Christopher Maina, wurde kurz vor Talias Geburt von zwei Polizisten im Armenviertel Mathare in der kenianischen Hauptstadt Nairobi erschossen. „Christopher Maina grub mit anderen Löcher für eine Überdachung. Das sollte ein Sammelplatz werden für eine Jugendgruppe. Polizisten zwangen ihn, von der Stelle wegzulaufen, während er um sein Leben flehte“, steht im Bericht des Mathare Social Justice Centre (MSJC), einer Organisation, die außergerichtliche Tötungen in dem Armenviertel recherchiert und dokumentiert.

In den Jahren 2013 bis 2016 gab es nach Angaben von MJSC rund 800 solche Tötungen in Mathare. Eine kenianische Menschenrechtsorganisation, die Medico-Legal Unit (IMLU), spricht aber von lediglich 764 in diesem Zeitraum im ganzen Land. Menschenrechtler sind sich über die Zahlen nicht einig, aber sie sind überzeugt davon, dass in Mathare die meisten Opfer fallen.

Mathare, mit 250.000 Menschen auf drei Quadratkilometern, sieht von oben aus wie ein Meer von Blechdächern, durchschnitten von Straßen und Pfaden voller Löcher. Es gibt zwar Steinhäuser, aber die meisten Wohnungen sind aus Blech, Karton und Plastik, oft nicht mehr als ein Zimmer. Für Dusche oder Toilette müssen Bewohner in kommerziellen Badeanstalten zahlen.

Alte Busse brettern rücksichtslos über die schlechten Straßen. Im grauschwarzen Rauch aus den Auspuffen bieten Händler am Straßenrand Gemüse an. Und überall hocken Gruppen junger Männer herum und vertreiben sich den Tag mit nichts. Sie sind arbeitslos und müde von der oft vergeblichen Jagd auf einen Job.

„Mein Mann war arbeitslos und hat mit kleinen Verbrechen etwas Geld verdient. Dafür saß er im Gefängnis, aber nach seiner Freilassung beschloss er, sein Leben zu ändern, auch weil wir unser Kind erwarteten“, erzählt Witwe Wamboi, während sie das Gesicht ihrer Tochter streichelt. „Als mein Schwiegervater die Polizei fragte, warum sie seinen Sohn erschossen hatten, sagte einer, dass es ihr Recht sei.“

Gesetzlich darf die Polizei nur zur Waffe greift, wenn sie einen Kriminellen auf frischer Tat ertappt und er oder sie eine Bedrohung darstellt. Bei außergerichtlichen Tötungen verspricht sie Untersuchungen, aber selten bringt so ein Versprechen etwas. Die kenianische Wahrheitskommission, die nach den blutigen Unruhen mit über 1.300 Toten Anfang 2008 infolge einer umstrittenen Präsidentenwahl ins Leben gerufen wurde, nennt außergerichtliche Tötungen „ein normalisiertes Phänomen in Kenia“.

Wir treffen Lucy Wamboi im Büro von MSJC, weil sie lieber nicht beim Haus ihrer Eltern, wo sie wohnt, mit der Presse gesehen werden will. Es könnte die Polizei auf sie aufmerksam machen. „Die Armut in Mathare kann man sehen, aber nicht die Angst der Bevölkerung“, sagt sie. „Jeder hier fürchtet ständig um sein Leben.“

Tagsüber gibt es viel Betrieb in Mathare. Wenn die Sonne untergeht, eilt jeder so schnell wie möglich nach Hause. Die Nacht gehört der Polizei und den Verbrechern, die sich oft in Banden organisieren. Es geht um Erpressung, Drogenhandel, gepanschten Alkohol, Prostitution.

„Die Menschen sind arm und arbeitslos“, analysert MSJC-Fieldworker Kennedy Chindi. „Manche versuchen, durch Kriminalität an Geld zu kommen. Wenn die Polizei einen Grund hat, soll sie Menschen verhaften – aber sie soll nicht auch noch als Richter und Scharfrichter auftreten. Jeder hat das Recht auf ein rechtsstaatliches Verfahren. Außerdem befinden sich unter den Opfern von außergerichtlichen Tötungen sehr viele unschuldige Menschen. Ihr Verbrechen besteht darin, arm zu sein.“

Geboren und aufgewachsen in Mathare, weiß der 43-jährige Familienvater Kennedy Chindi, besser bekannt als JJ, ganz genau, wie leicht es ist, in der Kriminalität zu landen. Er hat selbst Jahre im Gefängnis verbracht wegen gewalttätigen Raubüberfalls. „Es war mehr ein Fall von falschen Freunden“, erklärt er. „Als ich rauskam, wusste ich, dass Kriminalität sich nicht lohnt. Seitdem versuche ich, junge Menschen fernzuhalten von Verbrechen, und Aufmerksamkeit zu wecken für die außergerichtlichen Tötungen.“

Verbrechen sind aber oft die letzte Chance für sehr arme Menschen, um an Geld zu kommen für Essen und Miete. Mathare hat den Ruf einer Räuberhöhle. Während in anderen Armenvierteln von Nairobi nationale und internationale Entwicklungsorganisationen tätig sind, um die Lebensumstände der Bewohner zu verbessern, gibt es in Mathare nur wenige. „Wenn Bewohner von Mathare außerhalb des Viertels Arbeit suchen, werden sie meist abgewiesen“, meint JJ. „Nicht weil sie unfähig sind, sondern weil sie aus Mathare kommen. Aus Mathare kommt nur Schlechtes, scheinen andere Kenianer zu glauben.“

Wo fängt man an, um das zu ändern? Junge Menschen im Viertel glauben, dass es an bezahlbarem Unterricht und vor allem an technischen Schulen mangelt. Schulen sind in Kenia offiziell kostenlos, aber es gibt eine ganze Liste von Gebühren: die Uniform, das Mittagessen, Kopierpapier, Bücher, Wächter, der Unterhalt des Gebäudes.

Der 21-jährige Edwin Od­hiam­bo hat Glück: Seine Familie hat das Geld aufgetrieben, um ihn studieren zu lassen. Er wohnt jetzt im Studentenwohnheim auf dem Gelände der Kenyatta-Universität. Aber in seiner Freizeit ist er zurück in seiner Heimat Mathare und arbeitet für die Ghettostiftung, die junge Menschen bei der Jobsuche oder der Geschäftsgründung berät.

„Als mein Schwiegervater die Polizei fragte, warum sie seinen Sohn erschossen hatten, sagte einer, dass es ihr Recht sei“

Lucy Wamboi

„Manche kriminelle Banden wollen sich ändern und aussteigen“, weiß Odhiambo, der Umweltwissenschaften studiert. „Einige sind Müllsammelgruppen geworden, weil der Staat diesen Dienst nicht anbietet. Damit verdienen sie zwar wenig, aber genug, um zu überleben.“

Odhiambo kannte bis zum Studium nur eine Welt: Mathare. Erst als er zur Universität ging, merkte er, dass es noch ein anderes Leben gibt als das im Armenviertel. Vor anderen Studenten verschweigt er seine Herkunft, er erzählt lediglich, dass er in Mathare arbeitet. „Sie hören zu, aber keiner kümmert sich um Mathare. Auch nicht die Politiker. Alle Politiker, die Mathare vertreten, leben außerhalb des Viertels. Wir sehen sie nur kurz vor den Wahlen.“

Am Ende des Tages geht Odhi­am­bo zurück in sein Studentenzimmer. Wenn er dort ankommt, sagt er seiner Mutter Bescheid. Sie lebt selbst im Armenviertel und ist immer erleichtert, wenn er nicht da ist.

Aktivist JJ von MSJC verlässt Mathare nur selten. Den ganzen Tag wird er auf Probleme angesprochen, das Handy klingelt andauernd. Er ist derjenige, der zur Polizei geht, wenn Polizisten jemanden in Mathare erschossen haben. „Ich bin bedroht worden von Polizisten, die zu meinem Haus kamen. Aber nicht alle Polizisten sind schlecht. Diese Arbeit muss ich halt machen. Gott wird mich schützen.“

Der Erfolg seiner Arbeit macht ihm Mut. Gerade hat er gehört, dass ein Polizist wegen Mordes zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt worden ist. Das Opfer, ein junger bekannter Verbrecher, stand an einer Haltestelle, als der Polizist ihn tötete. Augenzeugen bestätigten den Tathergang. Der Richter merkte an, dass der Tote zwar ein Verbrecher war, aber nicht auf diese Weise hätte sterben dürfen.

„Das ist eine Warnung an andere Polizisten“, meint JJ. „Poli­zis­ten sollen nicht nur dann bestraft werden, wenn es um be­kannte Persönlichkeiten geht. Auch die Ärmsten haben Rechte.“

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