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„Noch ärmer als gedacht“

Die Sozialdeputation in Bremen diskutiert mit Expert*innen über die Kindergrundsicherung. Anette Stein von der Bertelsmann-Stiftung will Armutsbekämpfung nun ganz neu denken

Existenzsicherung von Kindern auf grundsätzlich neue Füße zu stellen: Das schlägt die Bertelsmann-Stftung vor Foto: Christian Charisius/dpa

Interview Teresa Wolny

taz: Frau Stein, wann ist ein Kind in Deutschland arm?

Anette Stein: Bei der Definition von Kinderarmut gibt es grundsätzlich zwei allgemein anerkannte Kriterien. Ein Kind gilt als arm, wenn es in einer Familie lebt, die Hartz IV bezieht, oder wenn die Familie ein Einkommen unterhalb von 60 Prozent des Durchschnittseinkommens hat. In den Studien kombinieren wir beides, um die Realität zu erfassen.

Sie haben herausgefunden, dass viele Familien ärmer sind als gedacht. Woran liegt das?

In einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung wurde festgestellt, dass die Methodik, mit der wir Armut messen, eigentlich nicht passt. Üblich ist eine Messung mit der OECD-Skala, die man auch braucht, um Armut im internationalen Kontext vergleichen zu können. In nationalen Kontexten führt das aber zu fehlerhaften Darstellungen, weil die Skala regionale Einkommen nicht berücksichtigt und nicht beinhaltet, mit welchen und wie vielen Personen man in einem Haushalt mit niedrigem Einkommen lebt.

Warum ist das wichtig?

Als kinderloses Paar etwa braucht man nur ein Schlafzimmer, während man als alleinerziehender Elternteil mit Kind zwei benötigt. Durch die alte Skala wurden Familien mit mittlerem oder hohem Einkommen oft ärmer gemacht und Familien mit niedrigem Einkommen dementsprechend reicher. Die Armut ist nicht gewachsen, aber wir haben mit der neuen Skala eine bessere Methodik, um zu zeigen, dass viele Familien ärmer sind als gedacht.

Was kann man dagegen tun?

Wir plädieren dafür, die Existenzsicherung von Kindern auf grundsätzlich neue Füße zu stellen: Erstens brauchen wir eine regelmäßige Bedarfsermittlung darüber, was Kinder und Jugendliche konkret brauchen, um gut aufzuwachsen. Der zweite Punkt ist, dass die vielen verschiedenen finanziellen Leistungen zu einer einzigen gebündelt werden sollen. So soll sichergestellt werden, dass diese auch tatsächlich wirken. Außerdem brauchen Kinder und Jugendliche, das ist der dritte Punkt, eine gute Infrastruktur, um gut aufwachsen zu können.

Welche Strukturen sind das?

Einmal natürlich Kitas und Schulen, aber auch ganz niedrigschwellige Orte, wo Unterstützung und Beratungsmöglichkeiten angeboten werden.

Warum ist diese Form der Grundsicherung sinnvoller als das derzeitige System?

Sie wirkt gezielter gegen Ausschluss und Kinderarmut. Die derzeitige Kindergelderhöhung etwa bringt vielen einkommensschwachen Familien gar nichts, da sie dann an anderen Stellen wieder ein höheres Einkommen haben, wodurch wiederum Bezüge gekürzt werden. Schlimmstenfalls haben sie unterm Strich sogar weniger Geld zur Verfügung als vorher.

Wie werden die Bedarfe von Kindern und Jugendlichen eigentlich ermittelt?

Gerade dabei sollte den Kindern ein Mitspracherecht eingeräumt werden. Junge Menschen wissen sehr gut, was sie brauchen, um gesellschaftlich nicht abgekoppelt zu werden. Aktuell werden sie in diesem Kontext oft wie kleine Erwachsene behandelt, obwohl sie ganz andere Bedarfe haben. Die Bedarfserhebung sollte aber eine realistischen Basis dafür liefern, was man außer einem Dach über dem Kopf und Essen auf dem Tisch noch braucht. Ziel muss sein, allen Kindern soziale und kulturelle Teilhabe zu sichern, unabhängig von der Familienform, in der sie aufwachsen.

Foto: Veit Mette

Anette Stein, 53 ist Programmdirektorin bei der Bertelsmannstiftung. Stellt bei der heutigen Anhörung „Kindergrundsicherung“ der Sozialdeputation in Bremen ein neues Konzept zur Existenzsicherung von Kindern und Jugendlichen vor.

Gibt es einen Unterschied zwischen Stadt und Land?

In großen Städten ist der Anteil der Menschen, die von Hartz IV leben, besonders groß, außerdem leben dort viele Familien. Armut von Kindern hängt mit Armut von Eltern eng zusammen und auch davon sind etwa in Bremen viele Menschen betroffen. Auf Bundesebene soll bis Ende diesen Jahres von den Sozialministerien ein Konzept zur Kindergrundsicherung erstellt werden.

Wo muss sofort was getan werden?

Am größten ist der Bedarf bei den Alleinerziehenden und Mehrkindfamilien. Rund die Hälfte aller armen Kinder etwa leben in Familien mit nur einem Elternteil. Akut wäre hier, die Anrechnungspraxen zu verändern. Es ist sinnlos und fatal, wenn damit am Ende noch weniger für die Familie übrig bleibt als vorher. Alleinerziehende zahlen bei den Sozialversicherungsabgaben außerdem fast genauso viel wie jemand, der allein oder in einer Paarfamilie lebt, da muss wirklich etwas angepasst werden. Es muss auch berücksichtigt werden, dass viele Kinder in zwei Haushalten unterwegs sind, was zusätzliche Kosten erzeugt, die sich aber eigentlich nur wohlhabende Familien leisten können. Bei der Armutsbekämpfung ist außerdem die Erwerbstätigkeit von alleinerziehenden Müttern wichtig, und zwar eine, von der sie leben können.

Wer soll das finanzieren?

Wir schlagen vor, dass das eine steuerfinanzierte Leistung ist. Zudem plädieren wir dafür, dass der Steuerfreibetrag für Kinder beibehalten wird. Familien mit höheren Einkommen sollen hier nicht die Verlierer sein.

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