piwik no script img

Völlig absurde Vorwürfe

Der Prozess gegen die deutsche Journalistin Meşale Tolu wird in Istanbul fortgesetzt. Ein weiterer Deutscher sitzt in der Türkei wegen ähnlicher Vorwürfe in Haft. Die Aufmerksamkeit für ihre Fälle hat nachgelassen

Von Elisabeth Kimmerle und Ali Çelikkan

Meşale Tolu hat sich zurückgezogen. Seit sie am 18. Dezember unter Auflagen aus dem Gefängnis freikam, darf die deutsche Staatsbürgerin die Türkei nicht verlassen. Jeden Montag meldet sie sich auf der Polizeiwache in der Nähe ihrer Wohnung in Istanbul. Bei der Nachrichtenagentur Etha, für die sie früher gearbeitet hat, schaut sie kaum noch vorbei. Ihr Leben ist nicht zur Normalität zurückgekehrt. Wenn sie sich nicht um ihren Sohn kümmert, der halbtags im Kindergarten ist, denkt sie oft an die Haft und an die Freundinnen, die sie dort zurückgelassen hat. Die vergangenen Monate hat sie in Erwartung des nächsten Prozesstermins erlebt. Heute wird das Verfahren gegen sie fortgesetzt. Von der Verhandlung erhofft sie sich vor allem, dass die Auflagen für ihre Freilassung aufgehoben werden. Dann könnte sie nach Deutschland zurück, wo sie geboren und aufgewachsen ist.

Die Linken-Abgeordnete Heike Hänsel begleitete den Prozess gegen Meşale Tolu von Beginn an, auch diesmal reist sie zur Prozessbeobachtung nach Istanbul. Die stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion war im Gerichtssaal des streng bewachten, wie sie es nennt, „martialischen“ Hochsicherheitsgefängnisses von Silivri und im Dezember im Istanbuler Gerichtspalast, wo Tausende Fälle am Fließband verhandelt werden.

Beim Prozessauftakt im Oktober 2017 sei die Medienaufmerksamkeit groß gewesen, weil es das erste Verfahren gegen eine deutsche Journalistin in der Türkei war, sagt Hänsel. Doch nachdem Peter Steudtner und Deniz Yücel freigelassen wurden und ausreisen durften, bestehe nun die Gefahr, dass man in Deutschland zum Normalzustand zurückkehre. „Davon kann in der Türkei keine Rede sein: Die politischen Prozesse ohne jegliche Beweislage gehen weiter, die Inhaftierungen gehen weiter. Es braucht nach wie vor Aufmerksamkeit. Deshalb ist es mir wichtig, bei der Verhandlung dabei zu sein“, sagt sie. Heike Hänsel ist die einzige Bundestagsabgeordnete, die den Prozess verfolgt.

Der Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen, Christian Mihr, befürchtet, dass die internationale Aufmerksamkeit diesmal deutlich geringer ausfallen wird als noch im Dezember. „Nach der Freilassung von Deniz Yücel hat das Interesse an den in der Türkei inhaftierten Journalisten deutlich nachgelassen. Auch wenn viele damals gesagt haben, wir dürfen jetzt die anderen Inhaftierten nicht aus den Augen verlieren, passiert nun genau das“, sagt er.

Was Meşale Tolu widerfuhr, ähnelt dem, was auch unzählige Opposi­tionelle, Jour­na­lis­t*in­nen, Anwält*innen und Ak­ti­vis­t*innen in der Türkei erleben. Besitzen sie nicht die deutsche Staatsangehörigkeit, hört man in Deutschland so gut wie nichts von ihnen. Den Überblick über die unzähligen Prozesse in der Türkei zu behalten ist schwer. Nachdem Meşale Tolu bei einer Razzia am 30. April 2017 von bewaffneten Polizisten aus ihrer Wohnung geholt worden war, saß sie bis Dezember 2017 im Frauen­gefängnis Bakırköy ein. Zeitweise war ihr damals zweieinhalbjähriger Sohn Serkan bei ihr.

Tolu werden Mitgliedschaft in und Propaganda für die linksextreme MLKP zur Last gelegt, die in der Türkei als Terrororganisation eingestuft wird. Die türkischen Gesetze sehen dafür bis zu zwanzig Jahre Haftstrafe vor. Als Beweis legt die Staatsanwaltschaft zugrunde, dass Tolu zwischen 2013 und 2015 mit mehreren Tausend anderen Menschen an Gedenkveranstaltungen und Beerdigungen von YPG-Kämpfer*innen teilnahm, die im Kampf gegen den IS umgekommen waren. Eine davon war die Gedenkveranstaltung für die Deutsche Ivana Hoffmann, die in den Reihen der YPG gegen den IS kämpfte.

Warum Demirci, ist gänzlich unklar

Wegen derselben Vorwürfe wurde im April ein weiterer deutscher Staatsangehöriger in der Türkei verhaftet. Der Kölner Sozialwissenschaftler Adil Demirci war mit seiner krebskranken Mutter nur für ein paar Tage im Urlaub in Istanbul. Am frühen Morgen des 13. April stürmten Polizisten die Wohnung im Istanbuler Stadtteil Kartal, in der er untergekommen war, und nahmen den 32-Jährigen fest. „Mein Bruder hat mit meiner Mutter Verwandte besucht. Sie haben fünf schöne Tage in der Türkei verbracht, bis Adil festgenommen wurde“, sagt Tamer Demirci. Er versteht immer noch nicht, was passiert ist. Sein Bruder besitzt sowohl die deutsche als auch die türkische Staatsangehörigkeit und arbeitet beim Jugendmigrationsdienst in Remscheid mit traumatisierten Jugendlichen aus Kriegsgebieten. Nebenher ist er seit rund fünf Jahren ehrenamtlicher Korrespondent bei der sozialistischen Nachrichtenagentur Etha, für die auch Meşale Tolu gearbeitet hat.

Warum ausgerechnet Demirci, der in Istanbul keine Meldeadresse hat und sich nur für einen kurzen Zeitraum in der Stadt aufhielt, ins Visier der türkischen Behörden geriet, bleibt unklar. Bei der Einreise gab es keine Schwierigkeiten, auch in den Jahren zuvor ist Demirci seinem Bruder zufolge problemlos ein- und ausgereist. Nun wirft die Staatsanwaltschaft auch ihm vor, Mitglied der MLKP zu sein. Sie stützt sich auf Fotos von den drei Gedenkveranstaltungen, an denen auch Meşale Tolu teilgenommen hatte. Am 17. April wurde Demirci in Untersuchungshaft genommen und wenig später ins Hochsicherheitsgefängnis von Silivri gebracht.

„Die Vorwürfe sind völlig absurd: An einer Beerdigung teilzunehmen ist nicht verboten“, sagt Tamer Demirci. „Mehr haben sie gegen ihn nicht in der Hand. Das sind Standardvorwürfe, wie sie auch gegen Meşale Tolu erhoben wurden.“ Die Verhaftung seines Bruders sei eine Doppelbelastung für die Familie, sagt er. Zuvor hatten sich die Brüder gemeinsam um die Mutter gekümmert.

„Wie kann die Teilnahme an Gedenkveranstaltungen, die 2013 und 2015 keine Straftat darstellten, 2018 plötzlich ein Straftatbestand sein? Haben sich etwa die Gesetze geändert?“, fragt Adil Demircis Anwältin Gülhan Kaya und fährt fort: „Was sich tatsächlich geändert hat, ist das politische Klima in der Türkei.“ Auch gegen Kaya laufen Ermittlungen, sie darf das Land nicht verlassen und muss sich ebenfalls wöchentlich bei der Polizei melden. Dennoch kümmert sie sich um die Prozesse von Meşale Tolu, Adil Demirci und rund hundert anderen, die wegen desselben Vorwurfs vor Gericht stehen.

Politische Unsicherheit

Kaya meint, wenn man in der Türkei für eine regierungskritische Zeitung arbeitet, als So­zia­list*in bei Straßenaktionen aktiv ist oder, im schlimmsten Fall, beides, werde das früher oder später gegen einen verwendet. Vor allem vor Wahlen oder bei der Mobilisierung zum 1. Mai steige die Zahl der Festnahmen. „Du musst jeden Augenblick deine Verhaftung fürchten. Das normale Prozedere wäre: Du wirst vorgeladen, um deine Aussage zu machen, wenn es Ermittlungen gegen dich gibt. Kommst du der Vorladung nicht nach, wird deine Festnahme angeordnet. Doch bei uns ist inzwischen alles so normal geworden. Nein, was hier geschieht, lässt sich mit Recht und Gesetz nicht erklären“, sagt Kaya.

„Die Verhaftung von Adil Demirci sollte allen eine Lehre sein, die meinten, nach der Freilassung von Deniz Yücel sei wieder alles in Ordnung“, sagt Christian Mihr von Reporter ohne Grenzen. Er beobachtet eine politische Unsicherheit, wie die deutsche Seite mit dem Fall umgehen will. Auch Heike Hänsel hat den Eindruck, die Bundesregierung versuche, den Fall Adil Demirci „unter dem Radar zu halten, um die angekündigte Normalisierung mit der Türkei nicht zu gefährden“.

Ausgerechnet die Verbindung zu Etha könnte sich dabei vielleicht positiv auf den Fall von Adil Demirci auswirken, vermutet Mihr aber. „Dadurch berichten die deutschen Medien über ihn“, sagt er. In aller Regel helfe den deutschen Inhaftierten in der Türkei Aufmerksamkeit. „Wir haben bei Deniz Yücel gesehen, dass letztlich der politische Preis wegen des öffentlichen Drucks so hoch war, dass die türkische Seite verzweifelt einen Ausweg gesucht hat, ihn loszuwerden und gleichzeitig eine rechtsstaatliche Fassade zu wahren.“

Tamer Demirci hat mit Freund*innen seines Bruders in Köln einen Solidaritätskreis für Adil Demirci gegründet. Gemeinsam halten sie auf dem Kölner Wallrafplatz Mahnwachen ab und fordern, dass Adil Demirci freigelassen wird. „Es ist wichtig, dass wir wöchentlich sichtbar sind, um medialen Druck aufzubauen“, sagt Tamer Demirci. Als Meşale Tolu inhaftiert war, hat Adil Demirci an den wöchentlichen Mahnwachen für sie teilgenommen. Das hat seinen Bruder auf die Idee gebracht, den Protest fortzusetzen, „diesmal leider für Adil“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen