: Rebellische Geschichte
Siesta hielt Nancy Morales’ Vater mit umgeschnallter Pistole – später fand sie heraus, dass er ein Massenmörder war: mitverantwortlich für die „Verschwundenen“ der argentinischen Militärdiktatur
Aus Erlangen Luciana Ferrando
Den Satz, von dem sie sagt, er sei nicht einfach auszusprechen, sagt Nancy Morales an einem verschneiten Morgen Anfang März in ihrer Wohnung in Erlangen. „Mein Vater war ein Völkermörder.“ Sie nimmt die Taschentücher, die ihr Mann Stefan Schmitz vorsichtig auf den Tisch legt. Er soll in der Nähe bleiben, damit er sie notfalls korrigieren kann. Falls sie Teile ihrer Geschichte auslässt, ihrer Geschichte als Tochter eines Täters der argentinischen Militärdiktatur.
Erst seit Ende 2017 traut sich Nancy Morales, in der Öffentlichkeit über ihren Vater Enrique Morales zu sprechen. Vor einem Jahr ist sie mit dem neu gegründeten Kollektiv „Rebellische Geschichten mit Rechtschreibfehlern – Söhne und Töchter von Völkermördern“ in Kontakt getreten. Die Gruppe hat vierzig Mitglieder, deren Väter oder Verwandte während der Diktatur Menschenrechtsverbrechen begangen haben. Sie fordern Gerechtigkeit für die Opfer und deren Angehörige. Zur Demo am 24. März in Buenos Aires werden sie ihre Transparente mitbringen und im Chor rufen: „Nie wieder“, Nancy Morales wird mit dabei sein. An diesem Nationalen Gedenktag wird an den Militärputsch von 1976 erinnert – und an die 30.000 Opfer des bis 1983 herrschenden Regimes, die sogenannten Verschwundenen.
Nancy Morales sagt: „Es ist ein langer Prozess, es zu akzeptieren. Man hat mit Ängsten, Scham und Vorwürfen zu kämpfen.“ Oft werde man als Verräter in der Familie abgestempelt. „Ab heute bin ich für dich tot“, sagten einige ihrer Geschwister, als sie das erste Mal sprach – und doch, so sagt sie, gehe es nicht anders: „Wenn ich weiter schweige, werde ich das für immer bereuen.“ Sie habe, wie andere Söhne und Töchter von Völkermördern, die Hoffnung, dass das, was sie weiß, in den Prozessen gegen die noch lebenden Täter der Diktatur helfen kann. Denn so wie ihr Vater starben viele dieser Täter ohne Verurteilung.
Während der Diktatur war Enrique Morales Stadtrat von San Pedro de Jujuy gewesen, der zweitgrößten Stadt der nördlichen Provinz Jujuy, und Oberkommissar des 9. Kommissariats dieser Stadt. Außerdem war er von 1978 bis 1979 Geheimdienstchef der gesamten Provinz. Das 9. Kommissariat soll unter der Herrschaft des Militärs in ein geheimes Gefangenen- und Folterlager umfunktioniert worden sein, in dem Menschen von PolizistInnen entführt, gefoltert, vergewaltigt und getötet worden sind – Enrique Morales soll die Befehle dazu gegeben haben.
Am 15. März dieses Jahres wurden nun sechs PolizistInnen dieses 9. Kommissariats wegen schwerer Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt – darunter auch Nancy Morales’ Onkel, Arturo Morales. Ihr Onkel bekam zwölf Jahre. „Wenn mein Vater noch leben würde, hätte auch er endlich auf der Anklagebank sitzen müssen“, sagt sie. „Enrique Morales war Herr über Leben und Tod in Jujuy“, sagte eines der Opfer im Gerichtssaal. Damals, als Kind, ahnte Nancy Morales nicht, dass ihr Vater solche Macht hatte.
In San Pedro de Jujuy kam Nancy Morales 1963 zur Welt. Einige Monate nach ihrer Geburt trennten sich die Eltern, und sie zog mit der 19-jährigen Mutter in die Provinzhauptstadt. Der Vater hatte insgesamt neun weitere Kinder mit fünf Frauen. Sie sah ihn an manchen Wochenenden, verbrachte die Ferien mit ihm in San Pedro.
In ihren Erinnerungen seien sie aber nie zu zweit gewesen. „Immer waren Verwandte oder andere Polizisten dabei. Er spielte nie mit mir und war nicht besonders liebevoll.“ Sie sagt, dass irgendwas mit ihm nicht stimmte, aber als Kind konnte sie nicht greifen, was es war. Die Erinnerung an bestimmte Szenen kamen erst im letzten Jahr wieder zurück, als sie Kontakt zu der Gruppe „Rebellische Geschichten …“ aufgenommen hatte – und nach dem Besuch einer Gedenkstätte für Folteropfer in Buenos Aires. Da war das Bild ihres Vaters, der mit der umgeschnallten Waffe Siesta hielt. Oder die Erinnerung an den Moment, als er ihr ein gebrauchtes Radio schenkte und erklärte, es wäre „eine Kriegsbeute“. Sie erinnerte sich an einen Koffer voller Tarn-Accessoires, vor allem aber an diese Szene: „Eines Sommertages besuchte ich ihn im Kommissariat und sah junge Menschen, die vor einer Wand standen, geblendet durch Scheinwerferlicht.“ Ihr wurde gesagt, es seien Studenten.
Enrique Morales, ehemaliger Stadtrat von San Pedro de Jujuy
Als sie 13 Jahre alt war, lernte sie die 18-jährige Jenny Aquin Exeni kennen. Ihr Vater stellte sie ihr auf einer Party als seine neue Freundin vor. Überrascht ob ihres jugendlichen Alters fragte Nancy Morales sie, woher sie ihren Vater kenne. „Sie sagte mir, dass sie vor einem Club mit anderen Jugendlichen festgenommen und zum Kommissariat gebracht worden sei“, erzählt Morales. Aquin Exeni zeigte ihr die blauen Flecken an ihren Brüsten, „einige der Polizisten, die sie gefoltert hatten, waren an dem Abend anwesend“. Nancy Morales hatte niemanden, mit dem sie über diese Ungeheuerlichkeit hätte reden können – und schwieg.
„Als ich Jenny das nächste Mal sah, war sie von meinem Vater schwanger“, erinnert sie sich. Ihre Verwandten verboten ihr, sie zu treffen. Später sagte man ihr, dass sie das Kind zur Adoption freigegeben habe und nun im Süden des Landes sei.
Auch Nancy Morales verließ Jujuy, mit 18 ging sie nach Buenos Aires, um Literatur zu studieren. Es war die Zeit, als die Demokratie zurückkehrte. Sie lernte Familien kennen, die aus dem Exil zurück waren, besuchte die Demos der „Mütter der Plaza de Mayo“, die schon seit 1977 die Aufklärung der Entführungen und des Verschwindens ihrer Kinder forderten, und traf Opfer der Diktatur. „Wenn mich jemand fragte, was mein Vater während der Diktatur gemacht hatte, schämte ich mich, aber gelogen habe ich nie“, sagt sie.
Beim Tangotanzen lernte sie eines Tages den Deutschen Stefan Schmitz kennen. In dessen Heimatland wollten sie zuerst nur eine kurze Zeit verbringen, doch nun sind schon 28 Jahre daraus geworden. Morales unterrichtet Spanisch, zusätzlich hat sie einen Minijob, bei dem sie junge Menschen mit Behinderung begleitet. Das Ehepaar ist in der süddeutschen Tangoszene bekannt, sie geben Kurse.
Die Frage nach Jennys tatsächlichem Schicksal hat sie nie losgelassen. Schon mit 19 Jahren, zurück zu Besuch in Jujuy, hatte sie einen Flyer der „Mütter der Plaza de Mayo“ dabei, um ihren Vater damit zu konfrontieren. „Das sind alte Verrückte“, hatte Enrique Morales zu ihr gesagt. Sie widersprach, die Diskussion eskalierte. „Und wo ist Jenny?“, hatte sie gefragt. Doch er antwortete nicht, sondern lächelte nur auf eine Art und Weise, die bei ihr Gänsehaut erzeugte. „Du bist ein Mörder!“, entgegnete sie ihm. Diesmal gab er eine Antwort: „Ich bin stolz auf das, was ich gemacht habe, und würde es wieder machen.“ So jedenfalls hat sie es in Erinnerung.
Nach diesem Geständnis brach Nancy Morales den Kontakt ab. Zwölf Jahre später empfahl ihr eine Therapeutin, den Vater wieder zu treffen, um „in Frieden zu sein“. Als sie ihn dann in Jujuy aufsuchte, erkannte sie ihn kaum. „Ich erwartete einen Riesen, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Aber er war kleiner als ich.“ Sie redeten über das Wetter und die Aprikosenbäume, aber nie wieder über Politik. Noch zwei Mal sah sie ihn, bevor er 2008 an Krebs starb.
„Einige Stunden nachdem ich die Todesnachricht bekommen habe, erfuhr ich, dass Jenny am Leben war.“ Es war Jennys Sohn Luis, ihr Halbbruder, der sie kennenlernen wollte. Sie traf ihn sechs Monate später – und auch Jenny Aquin sah sie nach nunmehr 30 Jahren wieder. Morales versuchte Aquin zu überzeugen, auszusagen. Doch sie sagte Nein: „Niemand wird mir glauben. Schließlich habe ich einen Sohn mit dem Täter.“
Fortan versuchte Morales, Aquin zu unterstützen. „Unsere Position ist unbequem. Wir sind weder Helden noch Opfer“, sagt Nancy Morales über die Initiative, in der sie sich jetzt engagiert. Doch sie glaubt, dass die Gruppe wichtig ist, um das Schweigegelübde ihrer Familien, des Militärs und eines Teiles der argentinischem Gesellschaft zu brechen.
An Versöhnung glaubt Nancy Morales nicht, aber an Gerechtigkeit: „Ich kann mit meiner Geschichte die Vergangenheit nicht ändern, aber vielleicht dazu beitragen, dass so was nie wieder passiert.“
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