Die Arabistin, die niemand kennt: Die Jüdin und „Mein Kampf“
In der NS-Zeit arbeitete Hedwig Klein an einem Wörterbuch, mit dem Hitlers Schrift übersetzt werden sollte. Geholfen hat es ihr nicht.
Die Briefkarte datiert vom 21. August 1939. Vor zwei Tagen hat das Schiff Hamburg verlassen. Zielhafen: Bombay, Indien. Rathjens, ein Wirtschaftsgeograf mit Kontakten in viele Länder, hat der verfolgten Jüdin ein Visum für die britische Kronkolonie besorgt. Die Rettung scheint nahe und bleibt doch trügerisch. Hedwig Kleins Versuch der Emigration misslingt.
Die letzte Hoffnung der Hamburger Jüdin sollte schließlich daran hängen, bei der Verbreitung des Antisemitismus in der Arabischen Welt behilflich sein zu dürfen. Am Ende arbeitete sie an einem Wörterbuch mit, das als Grundlage für die Übersetzung von „Mein Kampf“ ins Arabische dienen sollte.
Hedwig Klein wurde 1911 als zweite Tochter des Ölgroßhändlers Abraham Wolf Klein und seiner Frau Recha geboren. Als Kind von nicht einmal fünf Jahren verlor sie ihren Vater. Er fiel im Ersten Weltkrieg 1916 an der Ostfront.
Die Halbwaise Hedwig Klein ging in Hamburg zur Schule, legte 1931 die Reifeprüfung ab und schrieb sich an der Universität in den Fächern Islamwissenschaft, Semitistik und englische Philologie ein. Ihre Studentenkarte ist erhalten. Darauf gibt sie als Berufsziel „wissenschaftl. Bibliotheksdienst“ an.
Einen Doktortitel durfte Klein nicht mehr tragen
Kleins Studium gerät zum Wettlauf mit der sich verschärfenden Ausgrenzung der Juden im seit 1933 nationalsozialistischen Deutschland. Im Frühjahr 1937 ist ihre Doktorarbeit fertig: die kritische Edition einer arabischen Handschrift über die islamische Frühgeschichte. Hedwig Klein beantragt die Zulassung zur Promotion. Mündlich wird ihr im Geschäftszimmer der Philosophischen Fakultät mitgeteilt, dass aufgrund eines Erlasses des Reichsministers für Erziehung und Volksbildung vom 15. 4. 1937 Juden ab sofort nicht mehr zur Doktorprüfung zugelassen seien.
Professor Arthur Schaade
Hedwig Klein kämpft. Am 3. 5. 1937 richtet sie einen Brief an den Dekan, der mit den Worten beginnt: „Ich, Hedwig Klein, Jüdin deutscher Staatsangehörigkeit …“ Sie erläutert, wie viel Mühe sie in ihre Arbeit gesteckt habe. Außerdem erwähnt sie, dass ihr Vater im Kampf für das Deutsche Reich gefallen sei. Der Antrag schließt mit dem Satz: „Da der Ausschluss von der Doktorprüfung eine große Härte für mich bedeuten würde, bitte ich nochmals aus den angeführten Gründen um Zulassung.“
Tatsächlich lässt sich die Leitung der Universität überzeugen. Auf der Zulassungsbescheinigung wird unter dem Namen Hedwig Klein angemerkt: „Jüdin, ausnahmsweise zugelassen.“ Die beiden Gutachter bewerten die Doktorarbeit mit der Bestnote „ausgezeichnet“. Dieses Ergebnis erzielt sie auch in der mündlichen Prüfung am 18. 12. 1937. Ihr Betreuer Arthur Schaade bescheinigt der jungen Wissenschaftlerin ein „Maß an Fleiß und Scharfsinn, das man manchem älteren Arabisten wünschen möchte“.
1938 soll die Arbeit gedruckt werden. Die Promotionsurkunde ist schon aufgesetzt. Da zieht der Dekan der Philosophischen Fakultät sein „Imprimatur“ zurück. Er hatte bei einem Hamburger „Oberregierungsrat“ und beim Reichsministerium nachgefragt, ob denn eine Jüdin noch die Doktorwürde erhalten könne. Schließlich sei „das Judenproblem in Deutschland in ein neues Stadium getreten“. In der Pogromnacht des 9. 11. 1938 wird die gleich neben der Hamburger Universität gelegene Synagoge verwüstet. Auf dem Deckblatt der Promotionsakte von Hedwig Klein wird nun handschriftlich vermerkt: „Doktorbrief nicht erteilt, da Jüdin“.
Die Emigration misslingt, weil der Krieg beginnt
Spätestens da, so belegen es die erhaltenen Dokumente, denkt Hedwig Klein nur noch an Flucht. Aber verfolgten deutschen Juden stehen die Türen ins Ausland keineswegs offen. Ihre einzige Chance, ein Visum zu bekommen, liegt in ihrer beruflichen Qualifikation. Die verzweifelte Hamburgerin schickt per Post Hilferufe ins Ausland.
Unterstützung erhält sie schließlich vom Hamburger Wirtschaftsgeografen Carl August Rathjens. Nach vergeblichen Anläufen in Frankreich und den USA wendet sich Rathjens an einen befreundeten Arabisch-Professor in Bombay. Dieser lädt die deutsche Wissenschaftlerin nach Indien ein. Die britischen Kolonialbehörden stimmen zu.
Ausgestattet mit dem indischen Visum verlässt sie Hamburg am 19. 8. 1939 an Bord des Dampfers „Rauenfels“. Zwei Tage später schreibt sie ihre hoffnungsfrohe Karte an Rathjens. Aber dann wird die Fahrt nach Indien jäh gestoppt. Bei einem Zwischenhalt in Antwerpen bekommt der Dampfer den Befehl, innerhalb von vier Tagen einen deutschen Hafen anzulaufen. Das Schiff kehrt um, zurück nach Hamburg. Der Grund ist der deutsche Überfall auf Polen am 1. September – der Beginn des Zweiten Weltkriegs.
Hedwig Klein erleidet jetzt „die ganze Quälerei“, wie Rathjens sich später ausdrücken wird, die alle deutschen Juden nach Kriegsbeginn durchmachen, vom Tragen des „Judensterns“ bis zur Vertreibung aus ihrer Wohnung und Zwangseinweisung in ein „Judenhaus“.
Auch Rathjens wird wie ein Staatsfeind behandelt. Er war wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ bereits 1933 aus seiner Beamtenstellung beim Hamburgischen Weltwirtschafts-Archiv entlassen worden. Anfang 1940 sperrt die Sicherheitspolizei ihn einen Monat ins KZ Fuhlsbüttel und verhört ihn. Nur mit Glück kommt er aus der „Schutzhaft“ wieder frei.
Übersetzungshilfe für „Mein Kampf“
Ihr alter Professor Arthur Schaade versucht noch einmal, etwas für Hedwig Klein zu erreichen. Er bringt „seine Wissenschaftlerin“ in Kontakt mit dem Arabisten Hans Wehr in Greifswald. Wehr ist 1940 in die NSDAP eingetreten. In einem Aufsatz empfiehlt er der Reichsregierung, sich „die Araber“ zu Verbündeten gegen England und Frankreich und auch gegen die Zionisten in Palästina zu machen.
Die Reichsregierung, namentlich das Auswärtige Amt, sieht in Wehr jedoch vor allem aus einem anderen Grund einen wichtigen Mann. Er arbeitet an einem Wörterbuch für zeitgenössisches Arabisch. Dieses Hilfsmittel betrachten die Orientspezialisten des Auswärtigen Amts als unerlässlich, um eine gelungene Übersetzung des Werks „Mein Kampf“ von Adolf Hitler zu verfassen. Die bis dato erstellten Übersetzungen hatten sich nämlich als unzulänglich erwiesen. Wehrs Wörterbuch soll nun helfen, bei der Wortwahl „den Ton zu treffen“, der die arabischen Leser anspricht. Das Projekt wird mit Regierungsgeld gefördert. Und die Hamburger Jüdin Hedwig Klein soll für das Arabisch-Lexikon nun Einträge beisteuern. Das geschieht tatsächlich, wie aus Briefen hervorgeht, die in Schaades Nachlass aufbewahrt sind und die von der taz eingesehen werden konnten.
So wertet Hedwig Klein Werke der neueren arabischen Literatur für das Lexikon aus. Sie verzeichnet Wortbedeutungen auf Zetteln und schickt diese per Post an die Redaktion. Für jeden Zettel bekommt sie 10 Pfennig Honorar. Wehrs Leute loben „die ausgezeichnete Qualität“ ihrer Beiträge. „Allerdings ist es natürlich völlig unmöglich, dass sie später unter den Mitarbeitern genannt wird“, schreibt ein Beteiligter am 8. 8. 1941 an Arthur Schaade.
Ihre Mitarbeit bewahrt sie am 6. 12. 1941 vor der Deportation nach Riga, für die sie die Hamburger Sicherheitspolizei vorgesehen hat. Denn fünf Tage zuvor schreibt Schaade an die Behörden, dass „Wehrmacht und Kriegspropaganda in hohem Maße an der Fertigstellung des Werkes interessiert sind“. Fräulein Klein sei für die Mitarbeit an dem Lexikon „hervorragend qualifiziert“. „Leider reicht die Zahl der vorhandenen arischen Mitarbeiter nicht aus“, so Schaade weiter. Ihr Beitrag sei nun „dadurch in Frage gestellt, dass ihr die Verschickung nach dem Osten droht“.
Schaade hat zunächst Erfolg. Seine ehemalige Doktorandin entgeht der Deportation. Ein halbes Jahr später kann er nichts mehr ausrichten. Am 11. 7. 1942 wird Hedwig Klein mit dem ersten Zug, der von Hamburg nach Auschwitz fährt, abtransportiert. Das Konzentrations- und Vernichtungslager hat sie nicht überlebt. Auch ihre Schwester, ihre Mutter und Großmutter werden ermordet.
Hedwig Klein wird posthum promoviert
In einem für seine Zeit ungewöhnlichen Akt des Erinnerns lässt Wirtschaftsgeograf Carl August Rathjens sich im Sommer 1947 vom Amtsgericht Hamburg als Hedwig Kleins „Abwesenheitspfleger“ einsetzen. Dann lässt er ihre Doktorarbeit in 56 Exemplaren drucken. Am 15. 8. 1947 wird Hedwig Klein offiziell zum „Doktor der Philosophie“ erklärt.
Physisch anwesend waren in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik am Orient-Seminar der Hamburger Universität andere. Zum Beispiel der Islamwissenschaftler Berthold Spuler. Während des Krieges war das NSDAP-Mitglied führender Mitarbeiter des Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete. Er half dabei, Muslime für den Krieg an Deutschlands Seite zu mobilisieren, auch unter sowjetischen Kriegsgefangenen. Von 1948 bis 1980 war Berthold Spuler ordentlicher Professor für Islamkunde in Hamburg. Als Studenten im November 1967 ein Transparent mit dem Spruch „Unter den Talaren der Muff von 1.000 Jahren“ enthüllten, rief Spuler: „Sie gehören alle in ein Konzentrationslager!“
Und Hans Wehr? Er musste nach dem Krieg vor eine Entnazifizierungskommission. Zu seiner Entlastung schrieb er am 20. 7. 1947: „Eine jüdische Fachgenossin, Frl. Dr. Klein aus Hamburg, konnte ich 1941 vor dem Abtransport nach Theresienstadt (sic) retten, indem ich sie für eine angeblich kriegswichtige Arbeit, eben für das arabische Wörterbuch, bei der Hamburger Gestapo anforderte.“ So steht es in seiner Entnazifizierungsakte. Wehr wurde als „Mitläufer“ eingestuft und musste 36,40 DM „Sühnegeld“ und Verfahrenskosten bezahlen.
Sein Wörterbuch, das bei der Übersetzung von „Mein Kampf“ helfen sollte, war vor Kriegsende nicht mehr gedruckt worden. Es erschien 1952. Im Vorwort dankt Wehr unter anderem einem „Fräulein Dr. H. Klein“ für ihre Mithilfe. Über ihr Schicksal verliert er kein Wort.
Der „Wehr“, wie das „Arabische Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart“ kurz genannt wird, ist heute das meistbenutzte Arabisch-Lexikon auf der Welt. 2011 wurde die 5. Auflage neu gedruckt. Näheres zu „Fräulein Dr. H. Klein“ erfährt der Leser dort immer noch nicht. Auf Anfrage teilte der Harrassowitz Verlag der taz mit, dass eine Neuauflage in Planung sei. Der Verlag wolle den Bearbeiter fragen, ob er darin einen Hinweis „auf das zweifelsfrei tragische Schicksal Fräulein Kleins“ geben könne.
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