Ulrich Boschwitz „Der Reisende“: Wie schnell das geht

Der Verleger und Herausgeber Ulrich Alexander hat den Roman „Der Reisende“ neu entdeckt, der kurz nach den Novemberpogromen von 1938 entstand.

Eine jüdische Familie flüchtet unter den höhnischen Blicken von Nazis im Juni 1939 aus dem Memelland mit Ziel Litauen.

Eine jüdische Familie flüchtet unter den höhnischen Blicken von Nazis im Juni 1939 aus dem Memelland mit Ziel Litauen Foto: dpa

Peter Graf findet es erstaunlich, dass „Der Reisende“ von Ulrich Alexander Boschwitz so gut ankommt. Immerhin sei die Hauptfigur des Romans, der jüdische Unternehmer Otto Silbermann, der sich nach den Novemberpogromen im Jahr 1938 auf der Flucht befindet, nicht sehr warm gezeichnet. Andererseits wirke so seine Selbstreflexion viel plausibler, meint Graf.

Silbermann ist eine herrische Person. Gewohnt, Herr der Lage zu sein, fällt es ihm noch schwerer als anderen, sich mit seiner neuen Rolle zurechtzufinden: „Was war ich? Nein, was bin ich? Ein Schimpfwort auf zwei Beinen, dem man es nicht ansieht, dass es ein Schimpfwort ist! Ich habe keine Rechte mehr, nur aus Anstand oder Gewohnheit tun viele so, als hätte ich noch welche.“

Silbermann echauffiert sich über seinen in Paris befindlichen Sohn, dem er nicht zutraut, ihm ein Visum zu besorgen. Einmal fährt er einen jüdischen Bekannten an, den er zufällig trifft und der das Pech hat, so auszusehen, wie sich Antisemiten einen Juden vorstellen: Er kompromittiere ihn ja!

Ernst Haffners „Blutsbrüder“

Peter Graf trägt schwarzes Jackett und Dreitagebart. Er spricht überlegt, während er im taz-Café sitzt, so leise und unaufdringlich, dass ihn auf der Aufnahme des Gesprächs die Stimmen der jungen Kolleginnen am Nebentisch zu übertönen drohen. Es ist noch nicht lange her, dass Graf mit einem von ihm wiederentdeckten Buch ein Coup gelang: Ernst Haffners 1932 erschienener Roman „Blutsbrüder“ erzählt von einer Clique mittelloser Berliner Jugendlicher.

Den „Blutsbrüdern“ ist es zu verdanken, dass „Der Reisende“ nun auf Deutsch erschienen ist. Der israelische Journalist Avner Shapira hörte von dem Buch und interviewte Peter Graf. Als das Gespräch in Ha’aretz erschien, meldete sich die in Israel lebende Nichte von Ulrich Boschwitz, Reulla Shachaf. Sie legte Graf nahe, sich das Manuskript von „Der Reisende“ anzusehen, das im Frankfurter Exilarchiv liegt. Der Roman wurde unter den Titeln „The Man Who Took Trains“ 1939 in London und „The Fugitive“ 1940 in New York veröffentlicht. Obwohl sich Heinrich Böll nach dem Krieg für das Buch einsetzte, erschien es nie auf Deutsch.

Ulrich Alexander Boschwitz wurde am 19. April 1915 in Berlin geboren. Sein Vater stammte aus einer jüdischen Familie, war aber zum Christentum konvertiert. Die Mutter war ein Spross der Lübecker Familie Plitt, die bedeutende Theologen hervorgebracht hat. Ulrichs Schwester Clarissa floh 1933 aus Berlin in die Schweiz, schloss sich der Zionistischen Bewegung an und wanderte nach Palästina aus.

„Der Reisende“ zeigt, was passiert, wenn der Staat bestimmte Bevölkerungsgruppen nicht mehr schützt und zu Freiwild erklärt

Ulrich und seine Mutter Martha Wolgast Boschwitz, eine Malerin, verlassen erst 1935 Deutschland. Anlass sind vermutlich die Nürnberger Rassengesetze. Mutter und Sohn emigrieren nach Schweden, dann nach Norwegen, wo Ulrich Boschwitz seinen ersten Roman „Menschen neben dem Leben“ verfasste. Er ist in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg angesiedelt. Die Protagonisten sind drei Obdachlose, die sich in einen feuchten Keller einmieten. Wegen des großen Interesses an „Der Reisende“ werde man „Menschen neben dem Leben“, 1937 in Schweden erschienen, sicher bald auf Deutsch publizieren, sagt Peter Graf.

Paris, Brüssel, Luxemburg

„Der Reisende“ entstand innerhalb weniger Monate nach den von der Naziführung organisierten Plünderungen jüdischer Geschäfte, Brandanschlägen auf Synagogen, willkürlichen Verhaftungen und Hunderten von Morden im November 1938, die Ulrich Boschwitz vom Ausland aus verfolgte. Er hält sich damals in Paris, Brüssel und Luxemburg auf. Schon die erste Szene des Buchs zeigt auf beeindruckende Weise das Können des damals 23 Jahre alten Autors.

Otto Silbermann sitzt seinem ehemaligen Frontkameraden Becker gegenüber, der lange sein Prokurist war, nun aber zum Sozius avanciert ist. Silbermann braucht jetzt einen „arischen“ Geschäftspartner. Er ist mit Becker freundschaftlich verbunden, drei Jahre Westfront sind nicht vergessen. Aber nun zeigen sich im Dialog subtil die neuen Machtverhältnisse.

Ulrich Alexander Boschwitz: „Der Reisende“. Klett-­Cotta, Stuttgart 2018, 303 Seiten, 20 Euro.

Der Nationalsozialist Becker bestätigt seinem alten Freund, für ihn sei er „ein deutscher Mann – kein Jude“. Man kann schon ahnen, dass die alte Freundschaft Becker nicht davon abhalten wird, sich Silbermanns Geschäft für einen Spottpreis anzueignen, als dieser sich ausbezahlen lässt, um zu flüchten.

„Vieles im Roman trägt autobiografische Züge. Diese Szene wohl eher nicht. Aber auch in diese Figurenzeichnung fließt persönliches Empfinden ein“, vermutet Peter Graf. Ulrich Boschwitz’ Vater starb kurz vor seiner Geburt an der Front, wie viele jüdische Männer, die sich weniger als Juden denn als deutsche Patrioten begriffen.

Flucht kreuz und quer durchs Land

Dass diese erste Szene im Wartesaal der Ersten Klasse eines Berliner Bahnhofs spielt, nimmt die Flucht Otto Silbermanns vorweg, der versucht, durch illegalen Grenzübertritt Deutschland in Richtung Belgien zu verlassen, aber scheitert. Fortan ist er mit der Reichsbahn unterwegs, kreuz und quer durchs Land, weil für einen Juden, wie er sagt, „das ganze Reich ein erweitertes Konzentrationslager“ geworden ist.

Der Reisende trifft Zivilpolizisten, stramme Nazis und Denunzianten, aber auch Menschen, die ihr Mitgefühl nicht verhehlen, ihm Hilfe anbieten. Er erhält er die Adresse eines jungen Kommunisten, der ihn zur Grenze bringt.

Peter Graf hat sich schon als Jugendlicher für Literatur der Weimarer Republik, der Emigration und aus der unmittelbaren Nachkriegszeit interessiert, Erich Maria Remarque, Manès Sperber, Alfred Andersch. Eben hat er im Verlag das Kulturelle Gedächtnis Alfred Neumanns Roman „Es waren ihrer sechs“ über den Widerstand in Deutschland neu herausgegeben. „Es gibt viel mehr Schätze, als man bergen kann“, sagt er.

Bestimmte Gruppen zum Freiwild erklären

Warum ist „Der Reisende“ jetzt so erfolgreich? „Mit den sprachlichen Instrumenten, die am Anfang von Diskriminierung und Ausgrenzung stehen, wird jetzt wieder gearbeitet. Das berührt die Leute an diesem Buch“, sagt Peter Graf. Das Buch zeige, was passiert, „wenn der Staat bestimmte Bevölkerungsgruppen nicht mehr schützt, sondern öffentlich zum Freiwild erklärt“.

Ulrich Alexander Boschwitz zeigt die Mechanismen der Ausgrenzung, in denen der Massenmord schon angelegt ist, nüchtern und schonungslos. „Vor zehn Minuten ging es noch um mein Haus, einen Teil meines Vermögens. Jetzt geht es schon um meine Knochen. Wie schnell das geht“, sinniert Otto Silbermann.

1939 folgte Ulrich Alexander Boschwitz seiner Mutter ins britische Exil. Dort wurde er als enemy alien interniert und nach Australien geschickt. 1942 ging er an Bord eines von der britischen Regierung gecharterten Passagierschiffs, um nach Großbritannien zurückzukehren. Am 29. Oktober wurde die „M. V. Abosso“ im Atlantik von einem deutschen U-Boot torpediert und versenkt.

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