Der Kampf um Mossul forderte viel mehr Opfer als gedacht

Im Irak bemüht sich weder die Armee noch das von den USA angeführte Militärbündnis, die Zahl der zivilen Opfer während des Krieges gegen den „Islamischen Staat“ genau zu ermitteln

Zu Beginn des Krieges waren es noch 20 Tote pro Woche, gegen Ende mehr als 300

Bei den Kämpfen um die irakische Großstadt Mossul sind fast zehnmal so viele Zivilisten getötet worden wie bislang bekannt. Ein Abgleich von Listen aus Leichenhallen mit Datensätzen von Nichtregierungsorganisationen durch die Nachrichtenagentur AP ergab eine Zahl von 9.000 bis 11.000 getöteten Zivilpersonen. Die internationale Koalition gegen den „Islamischen Staat“ (IS) und irakische Kampfverbände sind demnach für mindestens 3.200 dieser Opfer verantwortlich. Doch die tatsächliche Zahl könnte noch höher liegen.

Mossul war im Sommer 2014 vom IS besetzt worden. Von Oktober 2016 bis Juli dieses Jahres wurden die Dschihadisten in heftigen Gefechten wieder vertrieben. Die internationale Kampfkoalition hat sich bisher nur für 326 Getötete verantwortlich erklärt. Der irakische Ministerpräsident Haidar al-Abadi räumte den Tod von 1.260 Zivilisten ein. Vom IS gibt es keine Zahlen.

Um der tatsächlichen Opferzahl näherzukommen, durchforstete AP über mehrere Wochen Dokumente in Leichenhallen, sprach mit Totengräbern und Freiwilligen, die in den vergangenen Monaten Hunderte Tote aus den Trümmern der völlig zerstörten Stadt ausgegraben haben. Wichtige Informationen kamen auch von den Organisationen Amnesty International, der UNO, Iraq Body Count sowie Airwars, das die Luft- und Artillerieangriffe auf Orte in Syrien und dem Irak dokumentiert.

„Das war alles in allem der umfassendste Angriff auf eine Stadt seit mehreren Generationen. Und Tausende sind gestorben“, sagte Airwars-Leiter Chris Woods. Es sei entmutigend, dass weder das irakische Militär noch das von den USA angeführte Bündnis ein echtes Interesse an der Aufarbeitung der Opferzahlen hätten.

Nach den AP-Recherchen war der IS ebenso wie die irakischen Truppen gemeinsam mit den westlichen Angreifern für ein Drittel der Opfer verantwortlich. Das letzte Drittel konnte nicht eindeutig zugeordnet werden. Nicht enthalten in diesen Zahlen sind die vermutlich Tausende, die der IS in Massengräbern verscharrte. Was aus den Recherchen eindeutig hervorging, ist, dass die Zahl der Opfer im Verlauf der Offensive dramatisch zunahm. Zu Beginn waren es 20 Tote pro Woche, gegen Ende mehr als 300.

Bestatter Abdel-Hafis Mohammed sagte gegenüber AP, er habe nach der Eroberung von Mossul durch den IS vor allem Menschen beerdigt, die von den Extremisten enthauptet, gesteinigt oder von Dächern gestoßen worden waren. Nach Beginn der Militäroffensive gegen den IS seien viele durch Geschosse regelrecht zerrissen oder unter den Trümmern ihrer Häuser begraben worden.

IS-Kämpfer versammelten während der Luftangriffe in ihren Schlupfwinkeln ganze Familien als menschliche Schutzschilde um sich, doch vielfach wurden die Gebäude dennoch zerbombt. In einem Fall im März 2017 wurden nach Angaben des Pentagon 105 Zivilisten getötet, doch Augenzeugen berichteten von noch viel mehr Toten. Ziel der Luftangriffe waren damals zwei IS-Scharfschützen. In dem Gebäude hatten sich aber auch viele Zivilisten zusammengekauert.

Ein Sprecher des US-Bündnis verteidigte auf Anfrage der AP das Vorgehen. Hätte die Koalition nicht eingegriffen, hätten die Bewohner Mossuls Jahre, wenn nicht Jahrzehnte unter der Herrschaft des IS gelitten. (ap)