Band 4 von Meyerhoffs Erinnerungen: Verliebt sein! Kompliziert sein!

Joachim Meyerhoff beschreibt in seinem neuen Roman eine wilde Liebe in den achtziger Jahren: „Die Zweisamkeit der Einzelgänger“.

Zwei Menschen küsse sich

Also, bei Meyerhoff hat man mehr Spaß beim Küssen. Kuss-Weltrekordversuch Foto: ap

Am Ende wird es traurig. Das ist in diesem Buch von Anfang an klar. Aber wie traurig es wird, oh Mann, das ist dann schon noch etwas Besonderes. Joachim Meyerhoff, das weiß man längst, ist ein effektwilliger und ein effektsicherer Erzähler. Also fährt er am Ende seines neuen Romans „Die Zweisamkeit der Einzelgänger“ noch einmal dramatische Wendungen en masse auf, als würde sich das Erzählen selbst gegen den Schluss sträuben – aber das ist nur das Drumherum. Das Wesentliche ist, dass Joachim Meyerhoff der großen, wilden, glücklich machenden und überfordernden Liebe irgendwann einfach den Stecker zieht. Es ist eine alte Geschichte, doch immer wieder neu, und sie dreht einem das Herz um.

Der Anfang war so toll. In seinem ersten Drittel ist dieser vierte Teile des autobiografischen Erinnerungsprojekts „Alle Toten fliegen hoch“ das Porträt einer ungewöhnlichen Frau, gesehen mit den Augen der Liebe, beschrieben aus dem Abstand von dreißig Jahren.

Hanna heißt sie. Wir sind in Bielefeld. Hanna studiert. Germanistik. Literatur. Strukturalismus. Poststrukturalismus. Psychoanalyse. Soziologie. Alles. Eine hochbegabte Denkerin, besessene Leserin – der der Erzähler, als sie dann schon zusammen sind, das Buch auch beim Duschen vor die Augen halten muss – und hochneurotische Person, die sich in drei- und viermal gewendete Reflexionsschrauben drehen kann und bei der man nie weiß, ob sie das, was sie sagt, nun ernst meint oder ironisch oder nur gespielt ironisch und in Wirklichkeit doch ernst oder noch irgendwie anders.

Verschmelzungskuss

Der Erzähler seinerseits ist nun in seinem Beruf als Schauspieler angekommen oder vielmehr: längst noch nicht angekommen. Er spielt das Schauspielern erst noch. Ihre Verliebtheit beschreibt Joachim Meyerhoff als pure Übertragung von Energie, als Übersprung von libidinöser Elektrizität. Verschmelzungskuss. Erkundungskuss. „Ihr Zuhören war ein aktives Zusichziehen meiner Worte.“

Einmal wird es ihm doch zu kompliziert und er sagt: „Jetzt sei doch nicht immer so empfindlich.“ Da legt sie aber los: „Wir sind doch von allem nie genug, nicht gemein genug, nicht kompliziert genug, nicht lustig genug und eben auch nicht empfindlich genug.“ Man liest das gleichzeitig als Slapstick (jede große Verliebtheit ist ein Slapstick) wie auch als Teil einer Mentalitätsgeschichte. In etwa vielleicht so: Es gab die Siebziger mit ihren endlosen Hinterfragungen und Beziehungsgesprächen. Dann kamen die Achtziger, in denen man den Erfahrungshunger noch steigern, heiß, wild und gefährlich leben wollte – und in Wirklichkeit aber auch schon daran arbeitete, wie man die Freiheiten lebbar machen konnte. Was dem Erzähler in diesem Buch aber noch nicht gelingt.

Das Vermögen, die Vergangenheit neu zu erfinden, kann einen ehrfürchtig machen

Er reizt es aber auch wirklich aus. Über weite Strecken ist das Buch dann die Geschichte eines Betrugs und Doppellebens. Hanna bleibt in Göttingen, der Erzähler bekommt ein Engagement in Dortmund und führt dort bald eine Zweitbeziehung. Die Erzählung von dieser Franka gelingt Meyerhoff nicht ganz so eindringlich. Um sie genau zu beschreiben, hätte er auch zum Pornografen werden müssen; die körperliche Kommunikation ist das Entscheidende in der Beziehung mit Franka, die als Tänzerin im Dortmunder Ensemble arbeitet. Wiewohl nicht prüde, schreckt die Erzählung vor Details da aber zurück. Toll aber zum Beispiel, wie Frankas Tanzen beschrieben wird: „Es sah aus, als hätte sie ein Erdbeben verschluckt.“

Figuren am Provinztheater

Joachim Meyerhoff hat mit seinen Büchern einen gewaltigen Erfolg. Selbst bei wohlwollenden Kritiken liest man aber oft einen Unterton von Überheblichkeit mit, als sei dieses Schreiben leicht unter Niveau. Das trifft es aber nicht. Wie die Liebe zu Hanna nicht nur beschrieben, sondern immer auch analysiert wird, ist ganz große Kunst. Und daneben gibt es viele, viele großartige Episoden: wie Dortmund beschrieben wird, wie ein verunglückender Celan-Leseabend beschrieben wird, wie die Figuren am Provinztheater beschrieben werden, das Meerschweinchen, das als einziger Überlebender einer ganzen Nagerpopulation nicht Primo Levi heißen darf und dann James Last genannt wird – das wird man alles im Gedächtnis behalten.

Wer mit eigenen Erinnerungen vergleichen kann, wird sowieso ehrfürchtig vor diesem Vermögen, die Vergangenheit neu zu erfinden. In diesem vierten Band gibt es eine Aufführung der spanischen Avantgarde-Theatertruppe Fura dels Baus: Ja, so fühlte es sich an, von Motorsägen durch die Arena gejagt zu werden! Hanna wird man eh nicht vergessen. „Hanna saß an meinem Schreibtisch und glühte vor Komplexität.“ Solche Erinnerungen sind dann das, was von der Liebe bleibt.

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