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Klimawandel in AlaskaWarten auf den letzten Sturm

Die Beringsee steigt und bedroht ein kleines Dorf in Alaska. Seine Einwohner stehen vor einer Entscheidung: Wann muss man loslassen?

Der alte Standort des Dorfes Shaktoolik, verlassen seit dem Sturm von 1974 Foto: Dorothea Hahn

Die „Boyde J“ steht so dicht an der Rückseite von Edgar Jacksons Haus, dass man fast vom Wohnzimmer aus hineinklettern kann. Eine Leiter lehnt am metallenen Rumpf. Im Oktober hat der alte Fischer sein Krabbenboot an Land gezogen, es vollgetankt, Essens- und Wasserreserven an Bord getragen und ein hölzernes Gerüst auf das Deck gesetzt. Wenn der große Sturm kommt, vor dem sich alle in Shaktoolik fürchten, will er seine Familie an Bord bringen, eine Plane über das Holzgerüst werfen und versuchen, in Sicherheit zu fahren.

„30 bis 40 Leute passen auf mein Boot“, sagt der 72-Jährige, der mehr als drei Jahrzehnte lang Bürgermeister von Shaktoolik war: „Es wird eng und kalt werden. Aber zumindest haben wir eine Überlebenschance.“ Wie fast alle 258 Einwohner des Ortes ist Edgar Jackson ein Iñupiat und gehört zu einem der mehr als 20 indigenen Völker in Alaska. Wie alle hier nennt er sich selbst Eskimo, eine Bezeichnung, die außerhalb des Ortes als altmodisch und manchen als beleidigend gilt.

Shaktoolik, 700 Kilometer von Anchorage und 6.000 Kilometer von Washington entfernt, liegt am Ende einer schmalen Landzunge zwischen Tundra und Beringsee. Keine Straße führt nach Shaktoolik. Die einzige Verbindung zur Außenwelt ist die Schotterpiste, auf der kleine Propellerflugzeuge an Tagen landen können, an denen die Sicht klar ist. 60 einstöckige Häuser reihen sich rechts und links entlang der Piste. Sie führt 20 Kilometer ins Landesinnere und endet dort, die Bewohner benutzen sie, wenn sie in der Tundra jagen. Auf der Ostseite der Landzunge grenzen die Häuser an den Tagoomenik-Fluss, auf der Westseite öffnet sich hinter den Häusern die Bucht, die in die Beringsee und in den Nordpazifik übergeht. Das Meerwasser nagt an Shaktoolik. Es frisst die Küstenlinie weg.

In der Inupiaq-Sprache, die nur noch die Ältesten im Ort verstehen, bedeutet Shaktoolik „vereinzelt“. Aber jetzt zerrt der Klimawandel das Dorf vom Nordwestrand des amerikanischen Kontinents ins Zentrum des globalen Geschehens. Die Temperaturen in der Region steigen zweimal so schnell wie im Durchschnitt auf der Erde. Das Meer droht den Ort zu verschlingen. Shaktoolik ist einer von vier Orten in Alaska, die laut US-Rechnungshof umgesiedelt werden müssen.

„Es ist viel zu warm in Shaktoolik“, sagt Matilda Hardy. Von ihrem Wohnzimmertisch aus, hinter ihr ein Poster von Jesus’ letzten Abendmahl, blickt Hardy auf den dunklen Sandstrand, über den immer noch Meerwasser schwappt. An diesem frühen Novembertag ist es draußen nur ein Grad unter null, zehn Grad wärmer als sonst um diese Jahreszeit. Es regnet, statt zu schneien. Früher sah Hardy zu dieser Zeit Menschen über das gefrorene Meerwasser gehen, sie sah Schneebänke zwischen den Häusern wachsen, die im Winter manchmal so hoch wurden wie die Dächer.

Die Iñupiat von Shaktoolik bekommen mit 55 den Ehrentitel „Älteste“. Zusätzlich dazu ist die 60-jährige Matilda Hardy die gewählte Präsidentin des Tribal Council, des Stammesrats. In der Eigenschaft sorgt sie dafür, dass in Shaktoolik das Stammesrecht respektiert wird. Wenn ein Kind seine Eltern verliert oder von ihnen verlassen wird, sucht sie nach einer neuen Familie, damit es im Dorf bleiben kann. Und wenn jemand außerhalb stirbt, organisiert sie die Rückführung, damit er auf dem kleinen Friedhof am Flughafen beigesetzt werden kann.

Shaktoolik, das sind 60 einstöckige Häuser entlang der Schotterpiste Foto: Dorothea Hahn

Mitten im Ort steht das hellblau gestrichene Haus der Jacksons. Dort war die Landzunge im letzten Jahrzehnt noch mehr als 100 Meter breit. Seither ist die Beringsee 15 Meter näher gekommen. Bei Stürmen schwappt das Meerwasser bis an ihre Haustüre.

Die 74-jährige Helen Jackson sitzt in einem kurzärmeligen rosafarbenen T-Shirt neben ihrem Mann auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer. In der Mitte des holzgetäfelten Raums steht noch der alte gusseiserne Holzofen mit dem Rohr nach oben, aber die Wärme kommt nicht mehr von der Treibholzverbrennung, sondern von einer Gasheizung. Die Wände sind mit Plüschtieren und Familienfotos dekoriert. Auch hier hängt ein Poster des Abendmahls, wie in vielen guten Stuben von Shaktoolik. Auf einem Regal stapeln sich Basketballtrophäen der Kinder und Enkel. Helen Jackson hat ihre drei Kinder ermuntert, im Ort zu bleiben und den alten Lebensstil fortsetzen. Weil Shaktoolik sicher ist. Keine Haustüre ist abgeschlossen, nirgendwo stehen Zäune. Große Städte hält Helen Jackson – wegen der „Bomben, Terroristen und Räuber“ – für unsicher. Und: Shak­too­lik ist Zuhause.

An der Beringsee kommen die Stürme im Herbst und fast immer in der Nacht. Anders als die Hurrikane im Süden haben sie keine Namen. Aber sie sind zerstörerisch und eiskalt. „Bei einem großen Sturm werden hier 60 bis 70 Menschen erfrieren“, sagt Edgar Jackson, „das ist anders als in Florida und Texas“.

Edgar Jackson, der frühere Bürgermeister von Shaktoolik, vor seinem sturmtauglichen Krabbenboot Foto: Dorothea Hahn

Die Naturgewalten waren den Bewohnern von Shaktoolik lange gnädig. Sie konnten sich darauf verlassen, dass ihre weite Bucht zugefroren war, bevor die Herbststürme kamen. So konnten die Wellen nicht direkt aufs Festland branden. Doch jetzt schwinden diese Gewissheiten. Die Sommer werden länger, die Winter milder. Die Herbststürme kommen nun vor dem Eis.

Selbst der Untergrund ist in Bewegung geraten. Früher hielt der Permafrost den Untergrund das ganze Jahr mit Eis zusammen. Um den Boden nicht zu erwärmen, setzen sie in Shaktoolik ihre Häuser auf Stelzen. Jetzt taut der Permafrost. Der Boden weicht auf. Trägt nicht mehr wie früher.

Die Iñupiat von Shaktoolik leben seit Generationen in einer Symbiose mit der rauen Natur. Die Tundra, die Flüsse und das Meer sind ihr „Garten“. In die beiden Geschäfte, wo Hühnerschenkel und Apfelsaft fünfmal so viel kosten wie in New York, geht man nur im Notfall. Stattdessen jagen die Dorfbewohner Karibou und Elche, sammeln wilden Rhabarber, Kräuter und Beeren oder erlegen Beluga-Wale und Seehunde. Sie sagen dann: „Wir ernten.“

Jetzt müssen sie eine Lösung für das globale Problem finden, das ihren Garten bedroht. Während alles um sie herum in Bewegung geraten ist, fehlen ihnen die Worte, um es zu beschreiben. „Die Wettermuster ändern sich“, sagt man im Ort. Das klingt harmlos. Den Umgang mit dem „Wetter“ haben sie gelernt. Aber was tut man bei „Klimawandel“? Wann ist der richtige Zeitpunkt, die Heimat loszulassen? Wohin geht man?

taz am wochenende

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Vor allem aber: Schon wieder?

In der Nacht vom 9. November 1974 brachte ein Sturm Wassermassen vom Meer und zerstörte den alten Flughafen von Shaktoolik. Die frisch Vermählten Rhoda und Eugene Asicksik schliefen ahnungslos durch jene stürmische Nacht. Erst als der junge Mann am Morgen danach auf eine Zigarette nach draußen gehen wollte, merkte er, dass Treibholz seine Haustüre blockierte. „Alles war Eis, als ich nach draußen trat“, sagt Asicksik. Das Eis legte sich wie eine Schutzschicht um die Häuser und auf den Boden und verhinderte, dass sie vom Meer weggerissen wurden.

Ein Mann weigerte sich, wegzuziehen

Der Sturm von 1974 war der Auslöser für einen Schritt, den das Dorf zehn Jahre lang vor sich hergeschoben hatte: Die Umsiedlung von Shaktoolik. Damals lag das Dorf fünf Kilometer weiter die Landzunge herunter, an einer Stelle, wo die Bucht schon am Ufer tief ist. Stürme, die Wassermassen brachten, hatten das Dorf lange bedroht. Bereits 1964 hatten die Bewohner von Shaktoolik entschieden, umzuziehen, waren aber zehn Jahre lang, bis zum großen Sturm, geblieben.

Wer im Dorf der Entscheidung von damals hinterherspürt, stößt auf verschiedene Versionen. Zur Wahl gestanden hatte ein Platz am Fuß der Berge und der heutige Standort von Shaktoolik. Jene, die damals den Ausschlag gaben, sind tot. Die Nachgeborenen sagen, „die Ältesten haben entschieden“. Sie stimmten, so viel ist zu erfahren, mit einer knappen Mehrheit von zwei oder drei Stimmen gegen den Fuß der Berge. Die Ältesten wollten auf Augenhöhe mit dem Meer bleiben. Um ihre Boote ins Wasser lassen zu können, sobald ein Wal in Sicht kam.

Bei einem Sturm erfrieren hier 60 Menschen

Edgar Jackson

Schon damals hielten viele im Dorf die Entscheidung für falsch. Darunter auch Eugene Asicksik, der die Sturmnacht durchschlafen hatte. Er hielt den höher gelegenen Standort für sicherer. Aber er war jung und fügte sich der Weisheit der Ältesten. Das Wort „Klimawandel“ war noch nicht in Shak­too­lik angekommen. Nur ein alter Mann weigerte sich wegzuziehen. Er blieb allein im alten Shaktoolik, jagte, fischte und lebte dort, bis er starb.

Die Reste der alten Holzhäuser ragen wie Denkmäler einer vergangenen Zeit in den tiefliegenden Himmel. Genevieve Rock, 54, hat in einem von ihnen ihre ersten zehn Jahre verbracht. Als kleines Mädchen holte sie Wasser aus dem Fluss. Als sie im vergangenen Sommer dort Ayu-Blätter für den Tee sammelte, dachte sie an ihre Großmutter, von der sie ihren Namen hat. „Sie ist über diese Tundra gegangen, sie hat hier Beeren gesammelt“, sagt sie, während sie durch das hohe Gras zwischen zwei verrosteten Booten geht. „Wenn ich hier bin, spüre ich ihre Gegenwart.“ Rock lebte 17 Jahre lang in Anchorage. Aber als im vergangenen Jahr ihre Mutter starb und ihre Brüder sie riefen, kehrte sie mit Partner und den vier erwachsenen Kindern zurück nach Shaktoolik.

Nur Englisch war erlaubt

Nicht von den Iñupiat wurde der Standort für das alte Shaktoolik gewählt, sondern vom regierungseigenen Bureau of Indian Affairs, der Bundesbehörde, die in den gesamten Vereinigten Staaten Kinder von Ureinwohnern in Schulen gezwungen hat. In den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts packte das Amt Baumaterialien in Schleppkähne und stellte eine Schule an die windgeschüttelte Stelle auf der Landzunge, wo die Entladung am einfachsten schien. Dann drängte die Behörde die Ureinwohner, die bis dahin als Nomaden lebten, sich rund um die Schule niederzulassen: „Den Kindern zuliebe.“

Edgar Jackson, der alte Fischer, ging damals in diese Schule. Wenn er Inupiaq sprach, steckten ihm die Lehrer Seife in den Mund. Nur Englisch war erlaubt. Das Misstrauen blieb an ihm haften. Um seinen Kindern die Erniedrigung zu ersparen, hat er ihnen die „alte Sprache“ nie beigebracht. Zu Hause spricht er sie nur mit seiner Frau.

Gleichzeitig mit der „alten Sprache“ verschwanden auch die Schamanen, die Iñupiat-Tänze und die Trommeln aus Shaktoolik. Eugene Asicksik sagt heute: „Wir haben unsere Traditionen nicht abgeschafft. Die Missionare haben sie uns genommen.“ Er wurde als kleiner Junge in ein Internat am anderen Ende Alaskas geschickt, aus dem er erst als Erwachsener nach Hause zurückkehrte. Asicksik hat nie erfahren, ob es der Wunsch seiner Mutter war oder ob sie es auf Druck der Lehrer tat, weil sie eine Witwe war. Aber noch als 65-Jähriger senkt er seine Stimme, wenn er über die Zeit im Internat spricht.

Mit dem Umzug ins neue Dorf beschleunigte sich das Leben von Shaktoolik. Das Wasser fließt jetzt aus dem Hahn. Die neuen Häuser sind aus Fertigteilen zusammengesetzt, manche sind himbeerrot, manche lila, manche türkis angestrichen. Die Bewohner tragen statt Silberfuchsfellen Isolationskleidung aus Südostasien. Die Stars der Jugendlichen von Shaktoolik sind nicht mehr die besten Jäger, sondern die Basketballspieler der Schule. Und an der Schule gibt es eine zweisprachige Lehrerin, die Inupiaq unterrichtet.

Die Bevölkerung des kleinen Ortes, die von außen so geschlossen wirkt, hat in ihrem Inneren viele Bruchlinien, die mit dem Klimawandel tiefer werden. Vor allem die Jungen wollen so schnell wie möglich auf einen höher gelegenen Standort am Fuß der Berge umsiedeln. „Ihr steckt Geld in ein sinkendes Schiff“, sagt Michael Rock. Der Sohn der Spätheimkehrerin ­Genevieve Rock hat seine Kindheit in Anchorage verbracht, jetzt ist er 34 und lebt in Shaktoolik. Während der Fangsaison kann er dort auf einem kommerziellen Krabbenboot bis zu 8.000 Dollar im Monat verdienen – mehr als auf jeder Baustelle in Anchorage. Michael Rock hat einen pragmatischen Zugang zu Shaktoolik.

Michael Rock, Fischer, hinter ihm das viel zu dünne Novembereis Foto: Dorothea Hahn

Aber den Ältesten fällt es schwer, ihre bekannte Welt aufzugeben. Ihre Vorschläge sind ein Verwirrspiel. Oft widersprüchlich, unrealistisch oder vage. Edgar Jackson möchte eine befestigte und asphaltierte Evakuierungsroute zum Festland bauen. Über den Routenverlauf gibt es keine Einigkeit. Jackson möchte auch eine Notbeleuchtung, damit Boote in der Sturmnacht die Fahrrinne im Fluss finden können. Aber andere im Ort schütteln den Kopf. „Das gibt ihnen bloß das Gefühl, dass sie etwas tun“, sagt Eugene Asicksik. Schon für erfahrene Seeleute sei es eine Herausforderung, in einer Sturmnacht mit hohen Wellen und einem möglicherweise zugefrorenen Fluss auf Boote zu gehen, sagt er. Aber für Kinder und Alte sei es vor allen Dingen gefährlich. Ganz abgesehen davon ist auf den fünf großen Booten in Shaktoolik, die jetzt ganz nah an Hausfassaden geparkt sind, nicht genug Platz für alle im Dorf.

Auch über die Turnhalle der Schule – die die Gemeinde als Zufluchtsort für einen Sturm ausgewählt hat – gibt es im Dorf Dissens. Weil das Gebäude unter der Wucht des Meeres einstürzen und die Zufluchtsuchenden unter sich begraben könnte. Andere halten den Bau einer Notunterkunft am Fuß der Berge, wo 251 Menschen in den Tagen bis zur Ankunft von Rettungstrupps Wärme, Wasser und Essen finden könnten, für ein überzogenes Projekt. Und Matilda Hardy, die Präsidentin des Stammesrats, prophezeit, dass die Kosten für eine Umsiedlung so hoch sein werden, dass damit garantiert jede Diskussion darüber endet.

Ihr steckt Geld in ein sinkendes Schiff

Michael Rock

Doch im Sommer 2014 erlebte Shaktoolik einen Hauruckmoment. Eugene Asicksik war gerade der Bürgermeister des Ortes. Auswärtige Ingenieure hatten ihm vorgeschlagen, das Dorf auf der Meerseite mit einem Damm zu schützen – doch Geld für die Umsetzung gab es nicht.

Asicksik fackelte nicht lange. Ohne eine Genehmigung aus An­cho­rage und Geld aus Washington kaufte er zwei ausrangierte Kipplaster von der US-Armee, zwei Schaufellader und einen Traktor, ließ sie per Schleppkahn nach Shaktoolik bringen und heuerte acht Leute aus dem Ort an. Die Arbeiter fuhren im immer hellen Sommer Alaskas in Tag- und Nachtschichten Schotter in den Ort und schütteten einen zwei Meter hohen und 1,6 Kilometer langen Deich auf.

Der Deich hat Dutzende von Neugierigen aus anderen vom Klimawandel betroffenen Orten Alaskas nach Shaktoolik gelockt. Und er hat im Dorf die Hoffnung geweckt, dass vielleicht doch etwas möglich ist. Aber alle wissen, dass der Deich sie nicht vor einem Jahrhundertsturm schützen kann. „Im besten Fall gewinnen wir Zeit“, sagt Eugene Asicksik. Trotz des Deichs, auf den alle im Ort stolz sind, ist er nicht als Bürgermeister wiedergewählt worden. Das Ehepaar Asicksik sitzt jetzt auf gepackten Koffern. Er ist verbittert darüber, dass sein Rat nicht mehr gewollt ist. Sie sagt, das Warten auf die Katastrophe sei unheimlich. Im Januar wollen die Asicksiks umziehen. Aber Eugene Asicksik sieht es nicht als Abschied für immer. Er ist schon oft zwischen Shaktoolik und dem Rest der USA gependelt.

Ein halbes Dutzend Behörden sind zuständig

Edgar Jackson und Matilda Hardy sind Dutzende Male nach Anchorage gereist, um mit Politikern aus Alaska und Washington über Unterstützung zu sprechen. Zuletzt waren sie Anfang Dezember dort. „Sie versuchen, uns zu helfen“, sagt Edgar Jackson. Aber er befürchtet auch, dass die Hilfe „erst kommt, wenn die Katastrophe schon da ist“. Matilda Hardy fasst ihre Beobachtungen so zusammen: „Kein Geld“. Umgekehrt spüren die Behördenvertreter, dass die Vertreter aus Shaktoolik noch mit sich hadern und keine Entscheidung getroffen haben.

In Anchorage und in Washington ist die prekäre Lage vieler Ureinwohner an Alaskas Küste seit Jahren bekannt. Schon 2003 mahnte der US-Rechnungshof in einem Bericht an den US-Kongress, dass die Mehrheit der 200 Küstendörfer von Erosion und Fluten bedroht seien. In einem weiteren Bericht von 2009 nannte er Shaktoolik neben Kivalina, Shishmaref und Newtok als die vier Orte, die umgesiedelt werden müssen. Weitere 27 Orte an Alaskas Küste seien ebenfalls „vom Klimawandel bedroht“. Klimaforscher prognostizieren, dass die meisten dieser Orte bis Mitte des Jahrhunderts unbewohnbar sein werden.

Wir als Land haben keine Strategie

Joel Niemeyer

Dennoch ist nicht viel passiert. Alle 31 Dörfer sind weiterhin an ihrem gefährlichen Standort. Newtok, dessen Bevölkerung schon seit zwanzig Jahren über eine Umsiedlung diskutiert, hat erst in diesem Jahr den Grundstein für einen neuen Ort gelegt. Es mangelt vor allem am Geld. Jede einzelne Umsiedlung würde – wegen der hohen Baukosten für Straßen, Häuser und Flughäfen in der subarktischen Region – hunderte Millionen Dollar kosten. Die Behörden lehnen die Umsiedlungen nicht grundsätzlich ab, aber sie geben auch nicht die nötigen Gelder frei. Erschwerend für die Ureinwohner kommt hinzu, dass sie ab dem Moment, in dem sie eine Umsiedlung beschließen, weniger Subventionen für den Erhalt ihrer alten Infrastruktur bekommen. Doch so eine Umsiedlung kann dauern. Und in der Zwischenzeit müssen Schotterstraßen instandgehalten, Flughäfen repariert und Krankenstationen ausgebaut werden.

Umsiedlungen wegen Klimawandel sind ein neues Thema für die USA. Theoretisch betrifft es mehr als ein halbes Dutzend Behörden – vom Wohnungsbauministerium über die Umweltbehörde bis zum Landwirtschaftsministerium. Sie schieben die Verantwortung zwischen sich hin und her, keine fühlt sich zuständig. 2015 vor der Unterzeichnung des Pariser Abkommens sah es so aus, als könnte sich das ändern. Barack Obama reiste nach Alaska und sprach als erster US-Präsident öffentlich über Umsiedlungen wegen Klimawandel. Aber es blieb ein symbolischer Auftritt. Obamas Vorschlag, die Umsiedlungen mit Abgaben aus Offshorebohrungen zu finanzieren, schaffte es nicht einmal in den Kongress. Von seinem Nachfolger ist noch weniger Unterstützung zu erwarten. Donald Trump hat das Wort „Klimawandel“ aus den Dokumenten der Regierung getilgt. Beamte in Washington, die sich mit dem Thema befasst haben, sind unter ihm strafversetzt oder gefeuert worden.

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In Alaska ist das anders. Dort bezweifelt immerhin niemand, dass der Klimawandel real ist. Aber der Staat lebt im Rhythmus der Ölpreise. Seit die abgestürzt sind, hat er wenig Geld für neue öffentliche Projekte. Dazu kommt, dass die Lage der Dörfer längs der Küste nur eine von vielen Folgen des Klimawandels in dem Bundesstaat ist. Andere Auswirkungen sind die Übersäuerung des Meeres, die den Fischbestand bedroht, der Schädlingsbefall sowie die Brände, die in den Wäldern wüten, und die Straßen, die wegen der Schmelze des Permafrosts einbrechen.

Eine kleine Bundesbehörde mit Sitz in Anchorage, die Denali Commission, berät die betroffenen Dörfer. Aber in einem Bundesstaat, doppelt so groß wie Texas, sind die Möglichkeiten der 15 Beschäftigten begrenzt. „Wir könnten helfen, wenn wir als Land eine langfristige Strategie in der Klimapolitik hätten“, sagt Joel Niemeyer von der Kommission, „aber wir haben keine.“

Eine andere Lobby außerhalb des Ortes haben die Bewohner von Shaktoolik nicht. Die Ureinwohner stellen heute nur noch 15 Prozent der 700.000 Bewohner in Alaska. Und sie sind keineswegs ein geschlossener Block. Sie kommen aus verschiedenen Sprachen und Kulturen, und eine Mehrheit von ihnen lebt nicht mehr in kleinen Dörfern, sondern in Städten.

Aber in einem Punkt sind sich alle Bewohner von Shak­toolik und der anderen vom Untergang bedrohten Orte entlang der Küste Alaskas einig: Sie wollen unter sich bleiben. Jedes Mal, wenn aus Washington das Ansinnen kommt, mehrere Dörfer zusammenzulegen, um Kosten zu sparen, winken sie ab.

Matilda Hardy, die Präsidentin des Stammesrates Foto: Dorothea Hahn

„Wir sind alle anders“, sagt Matilda Hardy kategorisch, „wir haben unterschiedliche Kulturen und unterschiedliches Essen.“ Die Präsidentin des Tribal Council blickt von ihrem Wohnzimmertisch auf den Schotterdeich, das Meer und den Sonnenuntergang, der im Spätherbst Stunden dauert. Sie hofft, dass die zweisprachige Lehrerin an der Schule die Kinder wieder für Inupiaq begeistert. Dass die jungen Leute, die gegangen sind, zurückkommen. Und dass sie sich „weniger mit Technologie und mehr mit Sprache“ befassen. Im Hintergrund piepst ein Funkgerät. Hardys Sohn arbeitet für die Fluggesellschaft. Wenn eine Propellermaschine im Anflug ist, bekommt er eine Funknachricht. Dann muss er die Passagiere in Shaktoolik anrufen, ihr Gewicht und das ihres Gepäcks erfassen und so viele, wie das Flugzeug transportieren kann, zum Flugplatz bringen.

„Ich will hier nicht weg“, sagt die Mutter, „ich hoffe, Shaktoolik schafft es noch 30 Jahre.“

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3 Kommentare

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  • Vielen dank für den langen, informativen bericht! Mit vielen hintergrundinformationen. Das ende finde ich besonders traurig... jede bevölkerungsgruppe möchte unter sich bleiben - das hat wirklich keine zukunft!

  • Ein schöner Bericht. Bemerkenswert ist, dass auch die taz erwähnt, dass (manchmal) die Spracherziehung merkwürdige Blüten treibt. Damit meine ich nicht, die abzulehnende assimilierende Spracherziehung bei denen Kinder verboten wird, die Sprache ihrer Eltern zu sprechen. Damit meine ich die Spracherziehung, dass wir bestimmte Menschen anders bezeichnen müssen, da die bestehenden Bezeichnungen falsch seien.

    So bedeutet "Inuit" schlicht "Mensch". Wenn also ein Eskimo als "Inuit" bezeichnet werden soll statt als Eskimo, so entspricht dies der Aufforderung an Franzosen, die Deutschen doch bitte nicht mehr "Allemands" sondern "Mensch" zu nennen. Dass Deutsche niemals auf so eine absurde Idee kommen würden, ist klar. Eskimos kamen auch nicht auf so einen Blödsinn. Spracherziehung ist Macht und wer es schafft, anderen Leuten ihre Sprache vorzuschreiben, übt Macht aus. Besonders effizient ist dies, wenn man vorgibt einen Schwachen zu schützen und dafür Macht für sich reklamiert und mit dieser Macht dann irgendeinen Unsinn durchsetzt. Andere nennen das dann auch "Politik".

  • Die Einwohner nutzen doch auch Traktor, Flugzeug, Beton, Dispersionsanstrich. Woher soll das kommen? Und was ich immer nicht verstehe, dort ist es schön, wenn Tradition und Kultur bewahrt werden, aber hier soll immer alles modern und weltoffen sein? Ich möchte auch da wohnen, wo schon meine Großeltern wohnten, geht aber nicht, soll eine Umgehungstraße hin. Ich möchte meine Kultur auch bewahren!