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Die Krise spitzt sich weiter zu

Das Thema Wohnungs- und Obdachlosigkeit erfährt in den letzten zwei Monaten so viel Aufmerksamkeit wie lange nicht. Die kleine Geschichte der ersten Notunterkunft für wohnungslose Familien erzählt viel über die großen Ursachen und Auswirkungen

Von Manuela Heim

Als Anfang November eine kleine Notunterkunft in einem Kreuzberger Hinterhaus offiziell eröffnet wird, sind die Räume proppenvoll, Berliner Politprominenz und überregionale Presse geben sich die Klinke in die Hand. Das große Interesse kommt nicht von ungefähr. Ein Mord im Tiergarten, Anfang September mutmaßlich begangen von einem jungen obdachlosen Russen; ein grüner Bürgermeister, der wenig später laut über die Abschiebung aggressiver Obdachloser aus anderen EU-Ländern nachdenkt, das alles hat die Debatte über ein Thema angefacht, bei dem sich Wohlfahrtsverbände in den vergangenen Jahren meist vergeblich um Aufmerksamkeit bemühten: die Wohnungslosenkrise. Binnen wenigen Jahren hat sich die Zahl der Wohnungslosen in Berlin auf bis zu 40.000 verdoppelt.

Nun handelt es sich bei jener Notunterkunft, die Eröffnung feierte, um eine Einrichtung für wohnungslose Familien. Ihre Existenz zeigt die ganze Dramatik der Wohnungslosenkrise und ist zugleich eines ihrer berührendsten Kapitel. Ihre Geschichte ist in vielerlei Hinsicht eine Parabel für die Ursachen und Auswirkungen der Wohnungslosigkeit. Es ist eine kleine Geschichte, die etwas über die ganz großen Probleme erzählt.

Sie beginnt vor einigen Jahren: Spätestens 2014 tauchen die ersten Familien in Notunterkünften der Berliner Obdachlosenhilfe auf: Menschen mit kleinen und großen Kindern, Hochschwangere, die nicht wissen, wo sie schlafen sollen. Es sind Familien aus anderen EU-Ländern, ohne deutsche Sprachkenntnisse, die windige Arbeitsversprechen nach Berlin gelockt haben. Die hier, so berichten SozialarbeiterInnen, in Autos und Kellerverschlägen übernachten, bis es zu kalt dafür wird. Aber es sind auch mehr und mehr Menschen, die schon lange oder immer in Berlin wohnen und ihre Wohnung verloren haben: Weil sie nach deftigen Mieterhöhungen geräumt wurden, weil das Jobcenter die verteuerten Mieten nicht komplett übernimmt oder weil sie vor häuslicher Gewalt fliehen mussten. Und die einfach keine Wohnung mehr finden, die sie oder das Jobcenter bezahlen (können).

Im Oktober 2016 eröffnen Sozialarbeiterinnen und Integrationslotsinnen unter dem Dach der Diakonie Stadtmitte die erste Berliner Notunterkunft für wohnungslose Familien, zunächst ein Provisorium: Gerade mal 12 Plätze, Raum für 4 bis 5 Familien, bereitgestellt von der Kreuzberger Tabor-Gemeinde. Viel zu wenig für die über 1.400 Menschen, die dort im Jahr nach Eröffnung um Unterkunft bitten; 820 Kinder sind darunter.

Im Koalitionsvertrag verpflichtete sich der rot-rot-grüne Senat, 100 ganzjährige Notunterkunftsplätze für wohnungslose Familien bereitzustellen. Doch es dauert wieder Monate, bis größere Räume gefunden werden können, und als die Unterkunft für wohnungslose Familien dann im September dieses Jahres in die neuen Räume in der Wrangelstraße umzieht, muss dafür eine Einrichtung für psychisch Kranke weichen.

Knappe Ressource Raum

Das mache ihr heute noch zu schaffen, sagt Evelyn Gülzow, Geschäftsführerin der Diakonie Stadtmitte. Dabei ist auch diese Verdrängung symptomatisch: Die Sozialeinrichtungen konkurrieren nicht nur mit hochpreisigen Eigentums- oder Mietwohnungen. Um die knappe Ressource Raum kämpfen Einrichtungen der Flüchtlingshilfe, Bildungsträger, Kitas, Beratungseinrichtungen und Notunterkünfte vor allem auch miteinander.

Hilfe – je nach Gesetzeslage

Anspruch Nach dem Berliner Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz sind wohnungslose Menschen unterzubringen. Fehlen auf dem regulären Wohnungsmarkt Wohnungen, gibt es Einrichtungen wie Wohnheime, betreutes Wohnen und Wohnungen im geschützten Segment, die von den landeseigenen Wohnungsgesellschaften bereitgestellt werden. Von November bis März gibt es zudem die Notunterkünfte der Kältehilfe mit knapp 800 Plätzen.

Keinen Anspruch Weit mehr als die Hälfte der Obdachlosen kommt laut Wohlfahrtsverbänden aus anderen EU-Ländern. Sie haben in Deutschland nur dann Anspruch auf Leistungen wie Unterbringung in einem Wohnheim, wenn sie einen Job haben. Vielen von ihnen bleiben nur die Notunterkünfte der Obdachlosenhilfe. (mah)

Nun aber gibt es immerhin 30 Plätze für wohnungslose Familien und die übrigen 70 aus dem Koalitionsvertrag werden bald folgen. Das verspricht Familiensenatorin Sandra Scheeres (SPD) bei der Eröffnung. „Das sind gute Worte“, sagt Integrationslotsin Daniela Antonova, die schon von Beginn an Familien in der Notunterkunft betreut. „Aber die Realität ist hart“, sagt sie auch. Denn spätestens nach wenigen Wochen müssen die Familien ausziehen, und wieder steht das Hilfesystem vor dem Dilemma der Wohnungsnot.

Die Notunterkunft will eine erste Anlaufstelle sein, in der Kinder und ihre Eltern zur Ruhe kommen und eine Perspektive finden können. Es ist gut, dass es hier neun Familienzimmer, ein Spielzimmer und einen Aufenthaltsraum gibt. Dass die Familien Tag und Nacht bleiben dürfen. Dass vor allem die Kinder nicht wie in anderen Notunterkünften mit den häufigen Begleiterscheinungen langer Obdachlosigkeit konfrontiert werden. Dass die MitarbeiterInnen mit ihnen basteln, lesen und Ausflüge machen. Dass sich unter anderem zwei Sozialarbeiterinnen und drei IntegrationslotsInnen mit arabischen, bulgarischen und rumänischen Sprachkenntnissen um die Zukunft der Familien bemühen.

Aber die Einrichtung ist nur eine Station, und auch nach dem Aufenthalt bleibt die Frage nach dem Wohnraum, nach einer echten Perspektive. Die Evangelische Hochschule Berlin begleitet das Projekt und hat seit Beginn des Jahres Daten über die Hilfesuchenden erfasst. 36 Familien mit insgesamt 75 Kindern haben seitdem Obdach und Beratung gefunden. Rund die Hälfte waren alleinerziehende Mütter. Bei knapp einem Drittel der Familien hatte mindestens ein Elternteil einen deutschen Pass. Die meisten anderen waren EU-BürgerInnen. Die Familien blieben durchschnittlich 20 Tage in der Einrichtung.

Und was passiert dann?

Hier wird der Grund der Notunterkunft auch zum Dilemma. Nur vier der Familien konnten in eine eigene Wohnung ziehen. „Weil wir für Menschen aus Einrichtungen einfach keine Wohnungen finden“, erklärt Gülzow. 15 Familien konnten Plätze in Wohnheimen vermittelt werden, in einigen Fällen zahlten die Behörden die Unterbringung in Hostels oder Pensionen. Der Rest der Familien, überwiegend Menschen aus anderen EU-Ländern, die keinen Anspruch auf behördliche Leistungen haben, fand Unterschlupf in anderen Notunterkünften oder in den Wohnungen von Bekannten. Sie alle bleiben wohnungslos.

„Wir bauen uns hier ein Problem“, sagt selbst Gülzow. Denn ohne eine entsprechende Wohnungspolitik, ohne Klärung der rechtlichen Fragen bei Familien aus anderen EU-Ländern kann die Einrichtung nicht mehr als ein paar Wochen Verschnaufpause für Familien bedeuten, die nicht mehr wissen, wohin.

„Wir müssen jetzt andere Prioritäten setzen“

Monika Herrmann, ­Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg

Auch Monika Herrmann, grüne Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg, spricht bei der Eröffnung der Notunterkunft klare Worte. „2018 müssen wir Antworten auf die Wohnungslosigkeit haben“, sagt sie. Es müssten mehr Wohnungen für Wohnungslose bereitgestellt werden, auch wenn dafür Kieze verdichtet und gegen die Interessen von AnwohnerInnen gehandelt werden müsse. „Wir müssen jetzt andere Prioritäten setzen“, fordert Herrmann. Alle Bezirke müssten ihren Beitrag leisten.

Das will man auch in der Senatsverwaltung für Soziales verstanden haben. Der zuständige Staatssekretär, Alexander Fischer (Linke), hat bei der Eröffnung der Notunterkunft einen Termin zur Hand: Am 10. Januar sollen bei einer Strategiekonferenz alle relevanten Senatsverwaltungen, Bezirke und Wohlfahrtsverbände zusammenkommen, um über ein gesamtstädtisches Konzept gegen Wohnungslosigkeit zu beraten, das Wohlfahrtsverbände schon seit Jahren fordern.

Ob die Parabel, die die kleine Einrichtung im Wrangelkiez über ein großes Problem in Berlin erzählt, damit gut enden kann? Ob künftig Familien nicht mehr wohnungs- und schließlich gar obdachlos werden müssen? In den Senatsstuben, bei den Wohlfahrtsverbänden, ja selbst in der Kreuzberger Wrangelstraße weiß man, dass Lokalpolitik nur ein Anfang sein kann in einem System globaler Fehlentwicklungen. Nicht nur in Berlin, auch in Hamburg, Frankfurt und Köln, ebenso in Paris oder Warschau (siehe Seite 44, 45) kämpft eine wachsende Zahl von Wohnungslosen um ein würdiges Leben.

Der Ursprung dieser Entwicklung ist globaler Natur: Ein unregulierter Kapitalmarkt, in dem Immobilien nicht mehr vordergründig Wohnraum sind, sondern Verschiebemasse in den Portfolios gesichtsloser SpekulantInnen. Eine Welt voller Verteilungsungerechtigkeiten, in der die Menschen zwar zum Arbeiten dorthin gehen sollen, wo sie gebraucht werden, aber zum Scheitern doch bitte zu Hause bleiben sollen. Und was machen nationale und internationale Regierungen? „Das Thema gehört ins Kanzleramt“, hatte die Berliner Caritas-Direktorin Ulrike Kostka Anfang November gefordert und auf die Sondierungen gehofft. Die sind ja nun geplatzt. Wohnungslosigkeit und ihre Ursachen spielten dabei wohl keine Rolle.

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