Rakka markiert einen Wendepunkt: Nach dem Ende des Kalifats
Der IS hat seine Hochburgen in Syrien und im Irak verloren. Jetzt rücken die alten Konflikte wieder auf die Tagesordnung
Als militante, radikale Ideologie wird der IS unter dem gleichen oder anderem Namen wohl weiterexistieren – als Vollstrecker oder Anstifter von Anschlägen, auch in Europa. Die Rechnung ist einfach: Solange einige grundsätzlichen Konflikte und politischen Probleme in der Region nicht gelöst sind, solange wird die militante dschihadistische Ideologie ihre Rekruten finden.
Mit dem Herannahen des Endes IS-Kalifats zeichnen sich schon die nächsten Konflikte ab. Derzeit findet ein regelrechter Wettlauf um die letzten IS-Territorien in Ostsyrien statt. Die von den USA unterstützen kurdisch dominierten SDF-Milizen, die jetzt Rakka erobert haben, rücken vom Norden aus weiter vor. Aus dem Süden kommt die syrische Armee mit russischer und iranischer Unterstützung. Vom Sieger wird abhängen, wie die Ordnung in Ostsyrien nach dem IS aussehen wird. Regimetreue Friedhofsordnung – oder?
Die arabisch-kurdischen Milizen träumen von politischen Spielräumen jenseits des Regimes in Damaskus, die kurdischen Milizen von einer Unabhängigkeit von Syrien, wenngleich sie derzeit von einer Autonomie innerhalb der Landesgrenzen sprechen. Und sind die Feierlichkeiten rund um die Befreiung Rakkas erst einmal beendet, wird dort ziemlich schnell wider die alte kurdisch-arabische Konkurrenz auftreten, auch wenn die dort anwesenden US-Truppen versuchen werden, das Anti-IS-Bündnis zusammenzuhalten.
Die Anti-IS-Koalition im Irak zerfällt
Dass die Amerikaner an dieser Aufgabe scheitern, zeigt sich im benachbarten Irak. Sobald dort der gemeinsame Gegner fehlte, zerfiel die Anti-IS-Koalition der arabischen Zentralregierung in Bagdad und den Kurden im Norden des Landes. Der neu entflammte, alte Streit wurde ausgetragen um die nordirakische Ölstadt Kirkuk mit ihrer kurdisch-arabischen Bevölkerung.
Doch die vergangenen Tage haben mit der Einnahme von Kirkuk und Sindschar bewiesen, dass die Anti-IS-Koalition im Irak nicht nur zwischen Kurden und Arabern auseinanderfällt, sondern auch unter den Kurden. Drei Wochen nach dem kurdischen Unabhängigkeitsreferendum hat die Zentralregierung in Bagdad das angewandt, was bei den Kurden fast immer funktioniert: eine Politik des Teilens und Herrschens.
Das ist im kurdischen Nordirak relativ einfach, denn die kurdische Autonomie hat kaum selbstständige staatliche Institutionen hervorgebracht. So bleibt die dortige Politik weiterhin den traditionellen Differenzen zweier Familienclans verhaftet: den Barsanis und ihrer Partei KDP, die mit Erbil und Dohuk den Westen der Autonomiegebiete kontrollieren, und den Talabanis, die in Suleimania im Osten herrschen. Mit einem von den Barsanis initiierten Unabhängigkeitsreferendum versuchten diese vor drei Wochen, die Oberhand zu gewinnen. Die Talabanis machten zähneknirschend mit, weil sie nicht als Antinationalisten dastehen wollten.
Derweil gilt: Wollten die Barsanis eine Unabhängigkeit von Bagdad, setzten die Talabanis eher auf eine Unabhängigkeit von den Barsanis auch im Einvernehmen mit Bagdad. Ein Deal zwischen Bagdad und den Talabanis über den kurdischen Rückzug aus Kirkuk war die Konsequenz dieser Konstellation. Verlierer sind beide kurdischen Parteien. Und im Hintergrund stehen radikalere Fraktionen bereit, wie die türkisch-kurdische PKK oder die Salafisten, um das politische Vakuum im Nordirak zu füllen.
Alte Konflikte brechen wieder auf
Lachender Dritter ist die Regierung in Bagdad. Deren Truppen sind in den vergangenen Tagen fast kampflos in in Kirkuk und Sindschar eingezogen. Aber Bagdad muss vorsichtig agieren. Wenn die Regierung zu sehr triumphiert, kann das die Kurden wieder zusammenschweißen.
Die Uhren in der Region sind wieder zurückgestellt: Weg vom IS und seinen Gegnern und hin zu den zahllosen alten Konflikten. Mit dem baldigen Ende des IS-Kalifats ist der Nahe Osten sicherlich nicht stabiler, aber auf jeden Fall wieder komplizierter geworden.
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