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„Die Diktatur hat versucht, diese Musik aus dem Gedächtnis zu löschen“

Musik transportiert Geschichte. In Chile ist sie Teil der Erinnerung an das Verbotene. Davon erzählt Rodrigo González in seinem Film „El Viaje“, den es jetzt auch auf DVD gibt

Interview Jens Uthoff

Der Musiker Rodrigo Gonzlez ist durch Chile gereist. Der Film „El Viaje“ erzählt von dieser Reise, während der sich der Musiker der chilenischen Folkmusik von den 70ern bis in die Gegenwart näherte und den „Nueva Cancion Chilena“ ergründete. Gonzáles besuchte Musikerinnen und Musiker im ganzen Land und nahm Stücke mit ihnen auf. Regie führte Nahuel Lopez, ein Freund von Gonzalez. „El Viaje“ (2016) wurde nun auf DVD veröffentlicht, im September erschien der Soundtrack mit Aufnahmen, die González mit Musikerinnen und Bands wie Chico Trujillo und Camila Moreno gemacht hat.

taz: Rodrigo González, während Sie in Ihrem Film „El Viaje“ Aufnahmen mit den Musikern machen, werden Sie manchmal eingeblendet. Sie wirken da sehr berührt von den Songs. Ist der Eindruck richtig?

Rodrigo González: Ja, das waren schon besondere Aufnahmen für mich. Wir hatten insgesamt nur sechs Tage Studiozeit, mehr Budget gab’s nicht. Also hatten wir teilweise drei Musiker pro Tag im Studio. Und in der kurzen Zeit knallen einige von denen da Versionen hin, bei denen du denkst: Super. Perfekt. Der Take hat vielleicht ein paar Fehler, aber er ist in sich komplett schlüssig, der Song berührt mich. Die Musiker haben das gemacht wie ein Formel-eins-Fahrer, der im Qualifying wie auf Befehl eine super Zeit fährt.

Sie wollten mit „El Viaje“ den Nueva Cancion und die politische chilenische Musik ergründen. Es ist dann zugleich ein Film über die politische Vergangenheit und Gegenwart Chiles geworden, oder?

Er hat seine politischen Momente. Einerseits bei den Musikern, zum Beispiel bei der Band Quilapayún, eine Legende in Chile. Und beim Besuch der Mapuche im Süden Chiles. Eigentlich sollte der Film noch mehr Politik enthalten, aber dann dachten wir, es könnte zu langweilig werden.

Nach dem Militärputsch 1973 hat das Pinochet-Regime den Nueva Cancion bekämpft und den Besitz einiger Instrumente unter Strafe gestellt. Der Songwriter Victor Jara wird im Film oft genannt, er wurde damals brutal ermordet. Kennt ihn heute in Chile jedes Kind?

Es gibt viele Chilenen, die Victor Jara überhaupt erst in den Neunzigern registriert haben. Es ist ja auch so: Jaras Platten waren verboten, die wurden alle zerstört. Wer mit einem Album von ihm erwischt wurde, ist gleich mal hopsgegangen. Einige Bänder wurden gerettet und rausgeschmuggelt. Nur deshalb gibt es heute Compilations mit Songs von ihm. Aber die Aufnahmen sind zum Teil gruselig, qualitativ schlecht. Die Diktatur hat versucht, diese Musik wirklich aus dem Gedächtnis der Chilenen zu löschen.

Wie wurde die Musik dennoch überliefert?

Violeta Para ist die Urfigur des Nueva Cancion. Victor Jara oder Quilapayún waren eigentlich ihre Fans oder ihre Follower. Violeta Para kam aus der künstlerisch-politisch linken Ecke. Sie hat viele Jahre ihres Lebens damit verbracht, die Identität der chilenischen Musik zu suchen. Sie ist mit Aufnahmegeräten durch kleine Dörfer gefahren. Teilweise hat sie die Texte der Lieder auch schriftlich festgehalten. Sie tat das mit einer gewissen politischen Absicht – denn viele dieser Musiken handeln vom Leiden der Arbeiter und der Armen. Von dem Typen, der sich auf dem Feld totschuftet und am Ende nicht mal ein Dach überm Kopf hat und so. Durch sie und durch ihre Follower haben die sogenannten Peñas eine große Bedeutung bekommen.

Was waren die Peñas?

In etwa wie Open-Stage-Veranstaltungen. Ein Treffen in sehr intimem Rahmen, nur mit akustischen Instrumenten, anfangs gab es nicht mal ein Mikrofon. Irgendwann wurde die Gitarre herumgereicht, und jeder konnte ein Lied spielen. Dort trafen sich Leute, die wollten, dass chilenische Musik mehr ist als nur der Abklatsch von – zum Beispiel – nordamerikanischer Musik.

Rodrigo González

Lange kannte man ihn vor allem von der Berliner Band Die Ärzte. Rodrigo González, geboren 1968 in Valparaíso, Chile, war als Kind 1974 mit seinen Eltern, die vor der Pinochet-Diktatur flohen, nach Deutschland gekommen. In den achtziger Jahren spielte er bei den Goldenen Zitronen und den Rainbirds, seit 1993 ist er Bassist, Pianist und Gitarrist bei Die Ärzte. Er spielt außerdem Bass bei Abwärts. Mit seinem Projekt ¡Más Shake! macht er südamerikanischen Sixties-/Psychedelic-Sound.

Im Film gibt es dieses Zitat, das Sie aufgreifen: „Die Gitarre hat Sinn und Verstand.“

Die Gitarre an sich hat in Chile eine große Bedeutung. Im Film besuche ich ja auch den Instrumentenbauer, diesen Charango-Hersteller. In der Zeit der heftigsten Diktatur, sagte der mir – wir reden von Mitte Achtziger bis zum Plebiszit 1988 –, sind sie als Zeichen des Widerstands mit einer umgehängten Charango durch die Stadt gegangen. Dieses kleine Instrument reichte der Diktatur als Zeichen, dass das ein Linker ist. Irre.

Wie wurde die Diktatur Ihres Erachtens aufgearbeitet?

Eigentlich gar nicht. Die Aufarbeitung einer Diktatur beginnt für mich mit einer neuen Verfassung. Pinochet ist nach dem Plebiszit 1988, bei dem er abgewählt wurde, unter der Bedingung abgetreten, dass die Verfassung nicht verändert wird. Es ist bis heute die alte Verfassung – mit unzureichenden Reformen.

Wie spürt man die Folgen der Pinochet-Zeit gesellschaftlich?

Dieses Land ist immer noch in Pinochet-Anhänger und -Feinde geteilt. Die eine Hälfte sagt, die Pinochet-Diktatur war richtig für Chile. Die andere sagt, es war der Untergang. Jene, die unter der Diktatur extrem gelitten haben, vergessen nicht, dass diejenigen nicht bestraft wurden, die für die Gräueltaten verantwortlich waren.

Im Film sieht man Sie zusammen mit dem Musiker Eduardo Yañez im Nationalstadion in Santiago, wo die Anhänger der alten Regierung eingesperrt, gefoltert und ermordet wurden. Yañez selbst war zu dieser Zeit dort gewesen. War das der bewegendste Moment der Reise?

Auf jeden Fall. Ich kannte ja die Bilder auch nur aus den wenigen Fernsehdokumentationen, die existieren. Dann bist du auf einmal da, und dieser Raum, diese Bänke, die gibt es wirklich. Und dann sitzt man da mit jemandem, der aus erster Hand berichten kann, wie es dort zugegangen ist. Der hat mir erzählt, wie Freunde von ihm vor seinen Augen gefoltert wurden. Und du denkst nur: Wie kann man mit einer solchen Erfahrung weiterleben, ohne jeden Tag zu hassen? Eduardo ist trotzdem ein guter Mensch geblieben und kein verbitterter Griesgram geworden.

Kontinuitäten aus der Pinochet-Zeit gibt es auch im Süden im Konflikt mit den Mapuche.

Ja, den Mapuche wurde im Prinzip das Land weggenommen, weil Pinochet es an irgendeine Corporation als Anbaufläche verkauft hat. Das sind grundsätzliche Dinge, die man eigentlich längst hätte rückgängig machen müssen. Die Mapuche besetzen stattdessen heute das Land und sagen: Hier wohnen wir jetzt, das ist das Land meiner Großväter. Das aber wird als Terrorakt bezeichnet, paramilitärische Gruppen fahren durch die Wälder, um sie zu verscheuchen und zu verhaften. In der Öffentlichkeit in Chile erfährt man aber rein gar nichts davon. Das kann man nur auf europäischen Blogs nachlesen.

Für jemanden, der mit chilenischer Musik noch nicht so viel zu tun hatte, ist „El Viaje“ eine Fundgrube. Eine Songwriterin wie Camila Moreno zum Beispiel dürften hier die wenigsten auf dem Schirm haben.

Ich hatte sie auch nicht auf dem Schirm. Ich war total baff, als ich sie zum ersten Mal gehört habe. Nahuel hat sie mir vorgespielt (Nahuel Lopez, ein Freund González’ und Regisseur von „El Viaje“, d. Red.). Wir haben die Musik einfach zusammengetragen. Mir war es auch wichtig, Bands wie Chico Trujillo dabeizuhaben, das ist aktuell eine der erfolgreichsten Bands Chiles.

Aber Chico Trujillo sind keine Nueva-Cancion-Interpreten?

Nein. Sie spielen eine Musik, die unter der Zeit der Unidad Popular (Allende-Zeit) gar nicht so relevant war. Angefangen haben sie Ende der Neunziger mit Coverversionen von Cumbia-Stücken. Jetzt machen sie aber eigene Kompositionen in dem Stil und füllen Stadien in ganz Südamerika.

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