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„Wir sind nicht die Öko-App“

Kompass Reinhard Bütikofer fordert eine Suche nach praktischen Lösungen – und warnt vor einer grünen Existenzkrise

Reinhard Bütikofer

Jahrgang 1953, war von 2002 bis 2008 Kovorsitzender der Grünen im Bund. Seit 2012 amtiert er in derselben Funktion für die europäischen Grünen, 1984 begann er seine Parteikarriere im Heidelberger Stadtrat.

taz: Herr Bütikofer, die Grünen bereiten sich innerlich auf Verhandlungen für ein Jamaika-Bündnis vor. Welche Strategie empfehlen Sie Ihrer Partei?

Reinhard Bütikofer: Wir müssen geschlossen agieren, so wie im Wahlkampf. Dann zählt Selbstbewusstsein. Wir sind nicht als zerfledderte Figur aus der Wahl hervorgegangen. Sondern als Akteur, der trotz Gegenwind Stimmen dazugewonnen hat. Erwarten Sie auch Entschiedenheit. Wir werden hart für unsere Ziele kämpfen.

Wie können die Grünen ihre Ziele mit Partnern durchsetzen, die oft das Gegenteil vertreten?

Uns geht es, Jamaika hin oder her, um echte Erfolge auf drei Großbaustellen. Da wäre die ökologische Modernisierung der Gesellschaft, von der Energie- über die Verkehrs- und Industrie- bis hin zur Landwirtschaftspolitik. Dann das Zentralthema Gerechtigkeit. In dieser hypothetischen Konstellation wären die Grünen das soziale Gewissen. Dazu die Europapolitik. Es gibt ein Zeitfenster für die nächste Bundesregierung, um mit Frankreichs Präsident Macron Reformen anzuschieben. Das muss genutzt werden.

Überfordert diese Agenda nicht Ihre Partei?

Koalitionen bedeuten Kompromisse. Hier müssen wir unterscheiden lernen zwischen Kompromissen, bei denen man sagt, mehr war nicht drin, aber wir bleiben dran. Und solchen, mit denen man sich um die eigene Zukunft bringt, weil man Überzeugungen opfert. Die Warnung vor der Überforderung ist berechtigt.

Bei den rot-grünen Koalitionen im Bund gab es immer eine klare Arbeitsteilung.

Na ja. Nach 1998 haben wir uns auf den Atomausstieg, die Ökosteuer, die eingetragenen Lebenspartnerschaften und die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts konzentriert. Das waren strukturelle Reformen, die das Land zum Positiven verändert haben. Um so was geht es wieder. Wir sind nicht die Öko-App.

Was ist aus Ihrer Sicht die größte Hürde für Jamaika?

Man wird die ganze Themenliste sorgfältig abschreiten müssen. Beispiel Digitalisierung: Ein Schutz der Arbeitnehmerrechte kommt bei Union und FDP nicht vor. Christian Lindner hat die Digitalisierung propagandistisch genutzt, um alte FDP-Thesen zur Marktwirtschaft in modischem Gewand neu zu verkaufen. Wir würden praktische Lösungen suchen, aber nicht Ideologie abnicken.

CSU-Chef Seehofer will das Vakuum an der rechten Flanke schließen, um die AfD zu bekämpfen. Ist das nicht tödlich für die Grünen?

Wir werden bei der Innen- und Flüchtlingspolitik viel zu kämpfen haben, weil das von allen Seiten identitär besetzt ist – mit unterschiedlichen Vorzeichen. Ich kann Ihnen da leider keine Dr.-Oetker-Schnellmix-Packung anbieten.

Wie sehen Sie die Europapolitik? Die FDP will, anders als die Grünen, zum Beispiel den Rettungsfonds ESM abschaffen.

Die Abschaffung des ESM ist eine Schnapsidee. Das wird es nicht geben. Auch, weil das Merkel auf keinen Fall mitmacht.

Manche Grüne sagen, ein Lagerwechsel bedrohe die Partei in ihrer Existenz. Wie sehen Sie das?

Die Geschichte zeigt, dass dieses Risiko besteht. Als die FDP 1969 in eine sozialliberale Koalition eintrat, befand sie sich in einer Existenzkrise. Als sie 1982 wieder zu Helmut Kohl ging, dito. Willy Brandt soll 1969 zur FDP gesagt haben: Wir regieren so, dass die FDP erfolgreich sein kann. Mal sehen, ob Merkel, Seehofer und Lindner das verstanden haben. Wenn stattdessen eine Kleinkrämerhaltung bleibt, klappt Jamaika nicht. Oder wir klappen zusammen, wenn wir uns darauf einlassen. Interview Ulrich Schulte

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