: Die Ballade von Alltag und Exzess
Fotografie Nur was so richtig krass ist, ist auch richtig echt. Authentizität bei Maxime Ballesteros
Es scheint so, als seien Szenen von Exzess und Ausnahmezustand geradezu zwingend verbunden mit Authentizität. Erst was so richtig krass ist, kann auch richtig echt sein. Denn gerade da, wo die Existenz bedroht ist, tritt sie am deutlichsten in Erscheinung. In der Kunst gilt dies ganz besonders in der Fotografie, derjenigen Gattung, die nach wie vor mehr als jede andere, als Zeugin der Wirklichkeit akzeptiert wird – und das trotz aller fotokritischen Diskurse der vergangenen Jahrzehnte. Gerade die sehr direkt wie beiläufig wirkenden Bilder, die man beispielsweise auf Instagram findet, wirken wie spontane Regungen, gelten als tagebuchartige Aufzeichnungen, also ganz besonders authentisch.
Solche Art Aufnahmen findet man auch in dem eben erschienen Band des französischen Fotografen Maxime Ballesteros. „Les Absents“ ist die erste Monografie des jungen, 1984 geborenen Stars, dessen Bilder man sowohl in der Tageszeitung Die Welt als auch in den größeren, aber etwas abseitigeren Magazinen wie Foam, Dazed und Exberliner findet. Ballesteros’ Interesse gilt der Verbindung von Alltag und Exzess. Auf diese Weise entstehen seine gleichermaßen authentischen wie existenziellen Aufnahmen. Das ideale und auch klassische Sujet für solcherlei Verbindungen ist der Krieg und sein Schlachtfeld, das Sujet von Ballesteros ist das westliche Nachtleben, vornehmlich das in Berlin. Körper immerhin stehen in beiden Fällen zur Disposition. Zu sehen sind auf seinen Aufnahmen etwa eine junge, blonde Frau mit einem Luftgewehr, unter einer Gartenlaube aufgehangene, blutige Schweinehälften oder eine Hand mit rot lackierten Nägeln, die sich fest um den dicken, stachelbesetzten Ast eines Christusdorns schließt.
Überhaupt Körper! Ihre Ausdehnung und ihre Grenzen, ihre Kraft und ihre Spannung, aber auch ihr Schmutz und die Verletzlichkeit stehen oft im Mittelpunkt seiner Arbeiten.
„Les Absentes“ versammelt Bilder aus rund zehn Jahren. Ballesteros hat sie ganz unabhängig von ihrem Entstehungsjahr in Kapitel unterteilt. Gleich das erste hat den Titel „Battles“. Dort finden sich ganz seltsame Szenen – eine pelzige Vogelspinne auf einem nackten Frauenschenkel, dampfende Stiefel auf einem Gasherd und ein umgeknicktes Umleitungsschild. „Kämpfe“ also unterschiedlichster Art.
Angespannte Muskeln
Im Zentrum der Bilder stehen jedoch immer wieder menschliche Körper – meist sehr angestrengt im Nachtleben. Ballestero stellt dabei sehr deutlich ihre Kraft und Widerständigkeit aus. Man sieht ständig durchgedrückte Gliedmaßen und angespannte Muskeln oder Sehnen. Es sind ausschließlich junge Menschen, die er fotografiert. Auffallend viele dieser angespannten Figuren sind in die Nähe des Sterbens gerückt. Eine Frau steht mit weit ausgestreckten Armen neben einem großformatigen Ölbild, das den Gekreuzigten zeigt.
Besonders interessant sind Ballesteros’ Bilder dort, wo ganz offensichtlich ein inszeniertes Moment hinzukommt. Eine seiner Aufnahmen zeigt den liegenden Kopf einer blonden Frau. In ihrer Augenhöhle steckt ein Stiletto, rote Farbe ergießt sich über den Boden. Der Mund ist geöffnet und entspannt. Etwas Surreales entsteht in der Reibung zwischen Inszenierung und Authentizität. Immer wieder verwendet Ballesteros schwarze Tücher, die er über seine Modelle drapiert. Auf dem Buchcover sitzen zwei Frauen auf einem Sofa, sie sind mit solchen Tüchern bedeckt, übrig bleiben nur die Beine. Hier realisiert sich schließlich auch der Titel des Bandes: „Les Absents“. Radek Krolczyk
Maxime Ballesteros: „Les Absents“. Hatje Cantz 2017,272 Seiten, 217 Abb., 35 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen