: Kims Rakete könnte Shinzo Abe helfen
Japan Mit Verweis auf die Bedrohung könnte Premier Abe die Abkehr vom Pazifismus durchsetzen
Aus Tokio Martin Fritz
Um 6 Uhr früh haben in Japans Nordprovinzen Aomori und Hokkaido am Dienstag die Mobiltelefone geläutet. Vielerorts heulten Sirenen auf, Züge stoppten. Auch über Lautsprecher kam die Warnung, Nordkorea habe eine Rakete abgefeuert. Die Menschen sollten Schutz suchen. Premierminister Shinzo Abe berief den nationalen Sicherheitsrat ein und erklärte, man werde „alle“ Maßnahmen zum Schutz der Menschen in Japan ergreifen. Dieser Raketentest sei eine „beispiellos ernste und schwerwiegende“ Bedrohung.
Die heftige Reaktion erklärt sich daraus, dass erstmals eine ballistische Rakete das Territorium von Japan überflogen hat. Bisher landeten die nordkoreanischen Testraketen im Meer zwischen Nordkorea und Japan. Frühere Überflüge 1998 und 2009 hatte Nordkorea vorab angekündigt und als Satellitenstarts deklariert. Diesmal erfolgte der Raketenstart ohne Ankündigung. Zudem hätte der Test auch schief gehen können. Dann wären Geschosstrümmer in Japans Boden gelandet.
Einige im Fernsehen befragte Japaner zeigten sich daher unzufrieden mit ihrer Regierung. Er habe gar nicht gewusst, wie er sich schützen solle, klagte ein Mann aus Hokkaido, den das automatische Warnsystem J-Alert aus dem Schlaf gerissen hatte. Tatsächlich gibt es in Japan kaum Bunker und Schutzräume. Mancher wunderte sich auch, warum die Rakete nicht abgeschossen wurde, obwohl Japan diese militärische Fähigkeit besitzt. Das Abwehrsystem Aegis für Kurz- und Mittelstreckenraketen auf vier japanischen Marineschiffen war offenbar einsatzbereit.
Die Regierung nannte keinen Grund für den Verzicht auf einen Abschuss. Allerdings führte die Flugbahn der Rakete in bis zu 550 Kilometer Höhe über einen wenig bewohnten Zipfel der Insel Hokkaido. Es bestand also keine unmittelbare Gefahr für japanisches Territorium. Das ist aber nach Ansicht vieler japanischer Rechtsexperten notwendig, damit Japans Militär überhaupt aktiv werden darf. Verfassungsartikel 9 untersagt Japan das Recht auf Kriegsführung. Dies schließt auch vorbeugende Angriffe ein. Diese rechtliche Einschränkung beim Umgang mit Nordkorea ist Wasser auf die Mühlen des nationalkonservativen Regierungschefs. Abe will die Verfassung bis 2020 reformieren und dabei den Pazifismusartikel einschränken, damit Japans Militär mehr Freiheiten bekommt.
Bisher sind die Japaner in der Frage Umfragen zufolge gespalten. Die Opposition wirft Abe vor, die Bedrohung durch Nordkorea zu übertreiben, damit die Stimmung in der Bevölkerung zu seinen Gunsten kippt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen