Sich etwas von der Seele reden

Erinnern In der Werkstatt der Kulturen in Neukölln finden sich wöchentlich geflüchtete arabische Frauen in einem Erzählworkshop und verarbeiten in diesem geschützten Raum dabei gemeinsam ihre Geschichten

Erinnern, erzählen: Im vergangenen Jahr präsentierte sich der Erzähl-Workshop Fadfadah auch in einer öffentlichen Aufführung Foto: May Khairy/Zati

von Anne Pollmann

Marwa Abidou steht in ihrem Büro in der Werkstatt der Kulturen. In der Mitte des Raumes stehen Stühle im Kreis. „Hier findet unser Workshop statt“, erklärt sie. Jeden Freitag treffen sich hier 20 Frauen. Sie nehmen Platz und erzählen in ihrer Muttersprache über sich selbst. Marwa Abidou ist Projektleiterin des interkulturellen Projekts „La Saison Arabe“ in der Werkstatt der Kulturen. Dort betreut sie den Erzähl-Workshop „Fadfadah II“.

„Fadfadah, das bedeutet ‚sich etwas von der Seele reden‘“, übersetzt sie. Der Workshop richtet sich an arabischsprachige Frauen mit Fluchterfahrung. „Alle reden über Geflüchtete. Aber den Frauen hört keiner wirklich zu. Die Idee des Workshops war darum, dass sich Frauen den Raum nehmen, der ihnen gebührt“, erläutert Abidou. 2016 entwickelte die Theaterwissenschaftlerin das Konzept des Workshops, der nun zum zweiten Mal stattfindet.

Bevor sie die Erzählworkshops ins Leben rief, hat sich Abidou vor allem mit Theatertheorien beschäftigt. „Irgendwann habe ich mich dann gefragt, was das eigentlich noch mit den Problemen unserer heutigen Zeit zu tun hat.“ In ihrer ehrenamtlichen Arbeit mit geflüchteten Menschen sei sie etlichen Frauen und ihren Geschichten begegnet. Im Alltag, auf Ämtern, im Deutschkurs werde ihnen immerzu erzählt, was sie tun und lernen müssten. „Der Workshop sollte ein sicherer Raum sein, in dem sie die Erzählmacht haben und verarbeiten, was sie erlebt haben.“

Das Format ist Tradition und Kritik zugleich. „Das Vorbild zum Workshop ist Al-Hakawati, ein Geschichtenerzähler, der auf der Straße Legenden und Mythen erzählt. Das findet man zum Beispiel in Ägypten, in Syrien und anderen arabischen Ländern. Es ist eine Art Performance, bei der das Publikum mit dem Erzähler interagiert.“

Traditionell seien das immer Männer, Geschichten­erzähler*innen gäbe es nur in der Rolle der Mutter oder Großmutter, die Märchen und Familiengeschichten weitertrügen, aber nur innerhalb der Familie. „Das kenne ich auch noch von meiner Oma aus Ägypten“, erklärt die gebürtige Kairoerin Abidou. Diese starre Rollenverteilung will sie mit ihrer Arbeit aufbrechen.

Für ihre Idee brauchte sie Gelder. „Das war gar nicht so einfach. Für viele Förderungen ist das Projekt rausgefallen, weil ich die Workshops nicht auf Deutsch, sondern auf Arabisch machen wollte.“ Bei der Werkstatt der Kulturen sei sie auf große Unterstützung gestoßen. Seither hat sie dort einen festen Raum.

Mit zwölf Frauen startete im März vergangenen Jahres der erste Workshop. Nun läuft bereits der zweite. Auch bei der aktuellen Gruppe ist Abidou darum bemüht, jede Störung von außen zu vermeiden – Presseinterviews inklusive. Die Workshops sind ein geschützter Raum. „In beiden Gruppen haben wir am Anfang nur erzählt, erzählt, erzählt, von Flucht, von Kindern, die in einem anderen Land sind, von laufenden Asylverfahren, vom Leben in einem in Anführungszeichen ‚fremden‘ Land, bis wir an den Punkt kamen, wo klar war, wir müssen das irgendwie festhalten und teilweise in die Öffentlichkeit tragen.“

Der Spielplan der Werkstatt der Kulturen in der Wissmannstraße steht diese Saison unter dem Motto La Saison Arabe und soll besonders das Schaffen arabischer Künstler*innen sichtbar machen.

Neben dem wöchentlichen Erzählworkshop für arabische Frauen findet jeden ersten Donnerstag im Monat ein Arab Song Jam statt. Arabischen Künstler*innen und Kulturschaffenden soll mit dem Fan-Café an jedem ersten Samstag im Monat der Einstieg in die Kunstszene erleichtert werden. Mit einem weiteren Workshop will man speziell arabischsprachige Berliner Schauspieler*innen fördern.

Weitere Informationen unter www.werkstatt-der-kulturen.de

In der ersten Gruppe hätten sie sich dann im Juli vergangenen Jahres für eine Aufführung entschieden – die trug den Titel „Wir sind keine Zahlen!“ Auf ihren Tablet zeigt Abidou ein Video der Veranstaltung: Vier Frauen sitzen auf einer Bühne vor einem kleinen Tisch, den ein Scheinwerfer ausleuchtet. Begleitet von einem Oud-Spieler und einer Sängerin, erzählt eine nach der anderen einen Ausschnitt ihrer persönlichen Geschichte auf Arabisch. Auf einer Leinwand laufen deutsche Untertitel mit. Die in Schwarz gekleidete Z. berichtet von ihrem Leben in Aleppo, der Flucht aufs Land und davon, wie Extremisten den Alltag reglementierten, „wer dagegen verstieß, wurde auf dem Marktplatz ausgepeitscht“. Auch W. stammt aus Aleppo. Die 20-Jährige erzählt mit ruhiger Stimme von ihrer Verzweiflung über den Krieg in Syrien, 16 Selbstmordversuche habe sie hinter sich.

H., 19, aus Al-Qahtaniyah im syrischen Norden, berichtet, wie sie an der türkischen Küste in ein Boot nach Griechenland stieg. Mit Fotos dokumentiert sie Momente, in denen, wie sie sagt, alle hofften, sie mögen überleben, „ich war die Einzige, die sich wünschte im Meer zu sterben“. Ein Bild zeigt die 19-Jährige in einer Gruppe von Menschen nach der Ankunft in Griechenland, viele halten die Finger zum Peace-Zeichen. „In der Gruppe verarbeiten wir gemeinsam die unterschiedlichsten Erlebnisse“, kommentiert Abidou.

Die zweite Workshopreihe hat im März begonnen. Auch mit der Gruppe soll es im Oktober eine Aufführung geben, „wenn sie bereit sind und das wollen“, erklärt Abidou, „in erster Linie geht es darum, dass die Frauen hier wöchentlich gemütlich, frei und in einem geschützten Raum sind, alles andere ist Nebensache.“