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„Meine Arbeit ist häufig erfüllend“

ANTEILNAHME Die Hamburger Palliativmedizinerin Karin Oechsle trägt mit Ihrem Team täglich dazu bei, dass die Bedürfnisse sterbender Patienten nicht im Klinikalltag untergehen. Nun tritt sie eine Stiftungsprofessur an, welche die Bedürfnisse der Angehörigen in den Blick nimmt

Interview Friederike Gräff

taz: Wie kommt es, dass jetzt die Angehörigen ins Blickfeld der Palliativmedizin geraten sind, Frau Oechsle?

Karin Oechsle: Man hat in den vergangenen Jahren verstanden, dass der Patient und seine Angehörigen nicht getrennt voneinander betrachtet werden können. In der Palliativmedizin spricht man von einer „unit of care“. Bisher hat man intuitiv bereits vieles richtig gemacht, aber gesichertes Wissen zu den Bedürfnissen der Angehörigen gibt es bislang wenig. Da wollen wir gesicherte Daten und zukünftig fundierte Standards schaffen, so wie es sie in der Versorgung der Patienten auch gibt. Sonst kann man auch nicht sagen, dass man sich um beide gleich gut kümmert.

Aber eben das wäre Ihr Anspruch?

Exakt gleich ist immer schwierig zu sagen. Bei sterbenden Patienten erleben wir oft, dass wir den Angehörigen mehr Aufmerksamkeit schenken müssen als dem Patienten. Dadurch, dass der Angehörige, der bei dem Patienten am Bett sitzt, nicht panisch reagiert, sondern mit der Situation zurechtkommen kann, tun wir dem Sterbenden natürlich auch etwas Gutes. Es gibt natürlich auch Phasen, etwa, wenn der Patient starke Schmerzen hat, in denen sehr viel Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet ist – insofern ist das kein statisches Gleichviel, sondern wird dem jeweiligen Bedarf angepasst

Das klingt erst einmal überraschend: Da ist jemand unheilbar erkrankt, und mehr Aufmerksamkeit brauchen – die Angehörigen.

Wenn in der Sterbephase der Patient medikamentös gut eingestellt ist, keine schwerwiegenden Symptome hat und die meiste Zeit schläft, dann ist es natürlich der Angehörige, der sich sorgt, wie es ihm geht, und fragt, was kommt da auf mich zu. Er ist es dann, der zurückblickt und sich von der gemeinsamen Zeit verabschiedet.

Wir haben inzwischen kaum mehr Erfahrung mit Sterbenden und dem Sterben. Da hätte ich gedacht, dass die Sterbenden umso mehr Unterstützung brauchen.

Diese Argumentation gilt ja genauso für die Angehörigen: Früher ist man damit groß geworden, dass die Oma im Haus gestorben ist, heute ist es bei den wenigsten so. Dann brauchen sie jemanden, der erklärt: Was heißt es, dass der Patient stirbt, wird er stöhnen, wird er Luftnot haben, was passiert da eigentlich? Die Angehörigen wollen wissen, was sie tun können und ob sie etwas falsch machen können. Viele haben Angst, den Patienten zu berühren, weil sie glauben, ihm dadurch zu schaden. Dann sagen wir: „Nein, legen sie sich dazu, nehmen Sie ihn in den Arm, wie Sie es immer getan haben.“

Im Krankenhausalltag ist Zeit immer knapp. Ist da eine Situation, in der die Mitarbeiter so intensiv mit den Angehörigen sprechen, Wunsch oder Wirklichkeit?

In meinem Alltag ist es Wirklichkeit. Aber ich sehe es als eine der Aufgaben dieser Professur, im ärztlichen Selbstverständnis zu verankern, dass Zeit für die Angehörigen in manchen Phasen des Lebens genauso wichtig ist wie es in anderen ist, einen Patienten zu operieren. Das versuche ich auch meinen Studierenden beizubringen.

Für die Krankenhäuser ist mit den Palliativstationen deutlich weniger zu verdienen als mit den chirurgischen Abteilungen, das treibt die Sache vermutlich nicht voran.

Ich glaube, dass das Gesundheitssystem weiter ein Interesse daran entwickeln sollte – wobei es das ein Stück weit schon getan hat. Aus Studien aus anderen Ländern weiß man, dass eine gute palliative Versorgung die gesamtmedizinischen Kosten senken kann. Früher herrschte oft die Vorstellung: Entweder man macht die große OP bzw. eine intensivmedizinische Behandlung oder man macht gar nichts. Dann hatten die Patienten natürlich Angst vor Schmerzen oder Atemnot. Wenn aber die Alternative zu großen invasiven Maßnahmen nicht Nichts ist, sondern eine gute symptomatische Therapie, dann können sich die Patienten auch leichter gegen eine Therapie entscheiden, die sie eigentlich nicht gewollt hätten.

Ganz nüchtern gefragt: Warum sollte das Gesundheitssystem ein Interesse an den Angehörigen entwickeln?

Wenn man die Angehörigen in ihrer Rolle als Unterstützer und vielleicht sogar Pflegende stärkt, kann man auch die Versorgung des Patienten verbessern. Und wenn man sich um Angehörige kümmert, die einen Patienten über einen längeren Zeitraum begleitet haben, kann man langfristige Folgeschäden wie komplizierte Trauerprozesse oder psychiatrische Erkrankungen vermeiden. Man muss sich klarmachen, dass die Angehörigen in einer Doppelrolle stecken: Sie sind Unterstützer, Berater, engste Vertraute, aber auf der anderen Seite sind sie auch selbst Betroffene, Verzweifelte, Überforderte. Das ist die Herausforderung für die Angehörigen und für uns: diese Doppelrolle klar zu machen, ihnen zu sagen: „Sie dürfen auch an sich denken. Es ist okay, dass Sie auch mal schlafen, dass Sie an die frische Luft gehen. Sonst können Sie das auf Dauer nicht durchhalten.“

Heute leben die Kinder oft in anderen Städten und Paare trennen sich noch im hohen Alter. Gibt es da eigentlich immer Angehörige, die sich kümmern?

Angehörige ist ein viel diskutierter Begriff. Es gibt eine Definition, wonach das nur die engsten Familienangehörigen sind, das gilt in der heutigen Zeit aber nicht mehr. Wir verstehen den Begriff so, dass es die Menschen sind, die für den Patienten als Bezugspersonen wichtig sind, egal ob es die Ehefrau ist, die Freundin oder, sogar relativ oft, die Nachbarin.

Wie erleben Sie den Kontakt zwischen Angehörigen und Patienten beim Sterben? Kommt da auch ein intuitives Wissen hoch, trotz aller fehlenden Vertrautheit mit der Situation?

Das lässt sich schwierig pauschal beantworten. Es gibt Menschen, die noch nie einen Sterbenden erlebt haben und dennoch die Situation erkennen und einordnen können. Oder es gibt so intensive Beziehungen, bei der das Sterben gespürt wird, obwohl es von außen gar nicht greifbar ist.

Sie haben zuvor in der Onkologie gearbeitet. Wie haben Sie den Wechsel auf die Palliativstation erlebt?

Damals, 2008, gab es die Palliativstation am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) noch gar nicht. Und das war eigentlich meine Motivation: Ich habe gesehen, dass sehr, sehr viel getan wurde, um die Patienten gesund zu machen, ihnen Lebenszeit zu geben. Aber spätestens dann, wenn es keine onkologische Behandlung mehr gab, habe ich einen Bruch beobachtet; von ganz viel Behandlung hin zu einer gewissen Hilflosigkeit, die Leute sind teilweise in der Notaufnahme gelandet. Ich wollte, dass mehr für diese Patienten getan wird. Da, wo man nicht die bahnbrechenden Rettungen hinkriegt oder die Lebensverlängerung schafft, sondern im ersten Moment denkt: Da kann ich gar nichts tun.

Das ist jetzt eine große Frage, weil sie Ihre ganze Arbeit umfasst, aber dennoch: Was kann man denn tun?

Das allererste und allereinfachste, das mir einfällt, sowohl für Profis als auch für Angehörige, ist: mit dem Patienten in der Situation zu sein. Ehrlich zu sein und zu hören, was den Patienten bewegt. Bei ihm zu sein und zu sagen: Wir lassen dich nicht alleine. Es ist ein Prinzip der Palliativmedizin, die Dinge nicht ganz standardisiert anzubieten, sondern zu sehen: was braucht der einzelne Patient. Manchmal hat jemand Schmerzen, aber was ihn am meisten quält, ist die Frage: Was wird mit meiner Frau und meinen Kindern? Wir schauen: Was möchte ein Mensch noch erreichen? Das erst einmal zu hören und dann mit dem Patienten zu überlegen: Das ist leider nicht mehr realisierbar – und dann mit dem Patienten gemeinsam traurig sein. Aber auch zu gucken, was wir noch erreichen können.

Die allermeisten Menschen wollen nicht im Krankenhaus, sondern zu Hause sterben. Ist es Teil Ihrer Arbeit, das zu ermöglichen?

Karin Oechsle

42, ist Leiterin des Bereichs Palliativmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) und dort Inhaberin der Stiftungsprofessur für Palliativmedizin mit Schwerpunkt Angehörigenforschung, die die Hamburger Krebsgesellschaft eingerichtet hat.

Absolut. Deswegen gibt es auch ambulante palliative Versorgung, wo die Kollegen die Patienten zu Hause begleiten und das ist eigentlich immer das primäre Ziel. Man muss aber sagen, dass es da Grenzen gibt. Etwa wenn der Patient stark verwirrt ist und man ihn keinen Moment aus den Augen lassen kann. Oder wenn jemand die Sicherheit braucht, dass nachts bei einem Erstickungsanfall ein Profi die Medikamente bringt. Und wenn man als Angehöriger versucht, eine halbe Stunde neben jemandem zu stehen, der schlecht Luft kriegt, das muss man erst mal aushalten.

Grenzen scheinen ein großes Thema bei Ihrer Arbeit zu sein.

Wenn eine zierliche 80-Jährige versucht, ihren großen, schweren Mann, der nachts aus dem Bett gefallen ist, wieder aufzuheben, kann das eine Grenze sein. Oder über Monate rund um die Uhr da zu sein. Dann ist es wichtig, das anzuerkennen. Ich sage manchmal auch den Angehörigen, dass unsere Pflegenden, also Profis, die im Dreischichtsystem arbeiten, bei komplexen Symptomen und schwierigen pflegerischen Voraussetzungen auch mal sagen: Das fordert uns heraus. Wie soll ein Angehöriger dem gewachsen sein? Ich sage den Angehörigen: Es ist völlig legitim, zu sagen: Hier ist meine Grenze erreicht – ich muss mir helfen lassen.

Gehen Männer und Frauen unterschiedlich damit um?

Bei dem Thema spielen gesellschaftliche Erwartungen eine große Rolle. Frauen geraten häufiger unter Druck, das ist wissenschaftlich belegt, weil erwartet wird, dass sie ihren Mann gefälligst zu Hause pflegen sollen, während es Männern eher zugestanden wird, dass sie sich überfordert fühlen und es aus der Hand geben.

Wie gehen Sie von der Arbeit nach Hause?

Meist mit dem Gefühl, wichtige Dinge getan zu haben. Man weiß natürlich, dass die Patienten sterben werden – aber es ist nicht das Ziel meiner Arbeit, daran etwas zu ändern. Ziel ist es, daran etwas zu ändern, wie es passieren wird, und vor allem, wie die Zeit bis dahin aussehen wird. Da hat man die Möglichkeit, mit kleinen Dingen viel Gutes zu tun. Von daher ist meine Arbeit häufig sehr erfüllend und bereitet Freude. Natürlich gibt es auch Tage, an denen einem manche Schicksale näher gehen. Und natürlich verändert es einen auch, wenn man jeden Tag diese besondere Lebensphase mit den Patienten und Angehörigen teilen darf. Das ist auch ein Geschenk, manchmal empfinde ich es fast als Ehre.

Hat Sie Ihre die Arbeit verändert?

Ich habe gelernt, die Dinge, die ich habe, mehr wertzuschätzen und mich an ihnen zu erfreuen und weniger Zeit damit zu verbringen, darüber nachzudenken, was ich könnte, sollte und würde. Denn ich sehe bei der Arbeit, wie schnell man das, was man hat, verlieren kann. Das schafft aber auch eine gewisse Gelassenheit, weil man nicht mehr dem hinterher rennt, was man nicht hat.

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