piwik no script img

Überraschend unaufgelöst

„Die“ Die Doku „Auserwählt und ausgegrenzt – Der Hass auf Juden in Europa“ feierte Free-TV-Premiere. Handwerkliche Mängel zeigten sich bei allen Beteiligten

Zwei der Gäste bei Sandra Maischberger: Norbert Blüm (l.) und Ahmad Mansour Foto: Melanie Grande/WDR

von Heiko Werning

Der Antisemit, er ist ein rares Wesen. Wirklich niemand will einer sein. Was auch immer dafür sorgt, dass Juden mitten in Berlin oder Paris geschlagen werden, dass das Wort „Jude“ als Schimpfwort auf Schulhöfen üblicher Sprachgebrauch ist, dass jedes jüdische Café unter Polizeischutz steht – mit Antisemitismus hat es nichts zu tun.

So gesehen war das Anliegen von WDR und Arte höchst ehrenhaft, ein Film-Team ins Feld zu schicken, um den heutigen europäischen Antisemitismus aufzuspüren. Erfolgreich: Die Sammlung von einschlägigen Statements quer durch alle Bevölkerungsschichten in Deutschland und Frankreich, von den Linken bis zu den Nazis, von Verschwörungsspinnern bis zu Rappern, von christlichen Ureinwohnern bis zu muslimischen Einwanderern, ist ebenso bedrückend wie erhellend. Leider mussten die Filmemacher nebenbei auch noch den Nahost-Konflikt klären. Dass die dort vertretene Sichtweise (kurze, aber präzise Zusammenfassung: Israel = gut, Palästinenser = böse) gar nicht so sehr die Sache der Juden und noch nicht einmal die Israels unterstützt, sondern dass diese Film gewordene Netanjahu-Fantasie den Blick auf das Problem eher verwässert, scheint ihnen nicht aufgefallen zu sein.

Wohl aber den Fernsehredakteuren, die die Ausstrahlung verhinderten. Aber nicht etwa, um an der Beseitigung der Mängel zu arbeiten, sondern um den Streifen ganz tief unten in der Schreibtischablage verschwinden zu lassen, in der Hoffnung, er löse sich da schon irgendwie auf. Tat er aber gar nicht. Schon stand der Verdacht im Raum, der Film werde nicht gezeigt, weil „Die“ seine Ausstrahlung verhindern – was insofern verwirrend ist, weil „Die“ ja üblicherweise Juden sind, wie der Film in seinen guten Momenten zeigt. So aber konnte sich die Bild als Verfechterin der Pressefreiheit inszenieren, nebenbei ihre anti-öffentlich-rechtliche Kampagne pushen, und zeigte also den Film online, was die Debatte so sehr befeuerte, dass die ARD nun doch noch im Hauptprogramm nachzog, nicht ohne sich fortwährend vor, im und unterm Film von selbigem zu distanzieren. Abschließend sollte Sandra Maischberger alles wieder einfangen, lud statt der Autoren aber lieber zum Beispiel Norbert Blüm ein, der immerhin auch schon mal im Nahen Osten war. Nach dem Brimborium um das Ableben seines Ex-Chefs Kohl war es zumindest beruhigend zu erfahren, dass es Blüm noch gut geht; wie eh und je beklagte er vor allem von Israelis begangenes Unrecht. Klar, wenn man über Antisemitismus in Deutschland redet, muss man zuerst über Kinder im Gaza­streifen sprechen. Blüm jedenfalls hätte man effizienter nicht nach, sondern in dem Film zu Wort kommen lassen, irgendwo zwischen Elsässer und Jebsen. WDR-Fernsehdirektor Jörg Schönenborn versuchte derweil, die Untätigkeit seiner Leute mit journalistischen Standards schönzureden, die überraschenderweise lauten, dass eine ARD-Doku nicht einseitig sein und keine Agenda verfolgen dürfe. Ob der Mann jemals zuvor ins eigene Programm geguckt hat?

WDR-Fernsehdirektor Jörg Schönenborn versuchte, die Untätigkeit seiner Leute mit journalistischen Standards schönzureden. Ob der Mann jemals ins eigene Programm geguckt hat?

Am Ende jedenfalls dürften sich alle Antisemiten darin bestätigt sehen, dass es gar keinen Antisemitismus gibt, sondern dass die Juden halt schlimme Finger sind, die ihre Propagandafilme inzwischen sogar schon vom WDR produzieren lassen. Was genauer betrachtetet eigentlich ein Beweis gegen die Theorie des allmächtigen Judentums wäre, denn hätte das wirklich was zu sagen, es würde kaum derartig dilettantische Auftragnehmer wählen. Aber mit Logik ist Antisemiten ja ohnehin nicht beizukommen.

Den jüdischen Schülern in Berlin und Paris jedenfalls dürfte das ganze Spektakel kaum geholfen haben, eine diskriminierungsfreie Kindheit zu erleben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen