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Kulturschock Freiheit

AUSTAUSCH Auf Einladung des Sozialen Friedensdienstes erlebt eine Gruppe Studierender aus Minsk die Bremer Freiheit und fragt sich, warum es bei ihnen so anders sein muss

Verhaftung in Minsk: Wer demonstriert riskiert oft sein Studium und seinen Job Foto: Tatjana Zenkovich/dpa

von Maximilian Schmidt

Entgeistert starren die jungen Menschen der Austauschgruppe den Rektor der Oberschule Findorff an. Gerade hat er ihnen eröffnet, dass, wer gegen die Schulregeln verstößt, sich bei ihm seine Strafe teilweise selbst aussuchen kann – die Palette reicht vom Laubfegen auf dem Pausenhof bis zum Schulflure streichen. Bedingung: Die Zusatzaufgabe muss dem Gemeinwohl der Schule nützen. Das zu glauben, fällt den Gästen aus Minsk schwer: Dass SchülerInnen eigene Entscheidungen treffen dürfen, und sei es nur bei Strafen, ist etwas vollkommen Neues für sie. Im System Weißrusslands sind derartige Freiheiten nicht vorgesehen.

Seit fast 20 Jahren veranstaltet der Soziale Friedensdienst Bremen in Kooperation mit der kleinen Organisation Post aus Minsk einen Austausch zwischen jungen Menschen. Vergangene Woche besuchte eine 15-köpfige Gruppe Deutschland unter dem Motto „Leben in Bremen“. Neben der Oberschule Findorff hatte Uwe Wrede vom SFD Besuche beim BUND und in der Behinderten- Werkstatt Martinshof organisiert. Und viele der weißrussischen TeilnehmerInnen sind erstaunt und fasziniert, wie sich Menschen in Deutschland selbst organisieren und von den vielen Möglichkeiten, sein Leben frei zu gestalten.

Grund: Weißrussland, das bereits seit 1994 unter Alexander Lukaschenkos autoritärer Führung steht, galt lange als letzte Diktatur Europas. Eine demokratische Zivilgesellschaft ist dort nahezu unbekannt. Politische Aktionen, die sich gegen die Regierung von Präsident Lukaschenko richten, werden massiv unterdrückt.

Auch sind politische Nichtregierungsorganisationen wie Naturschutzverbände verboten, dass sie Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen und verbriefte Mitspracherechte haben, wirkt auf die BesucherInnen völlig unerhört. „Wir können nichts ändern. Beschließt die Regierung etwas Neues, nehmen wir es hin“, berichtet eine Studentin. „Wer auf einer Demo verhaftet wird, wird der Universität verwiesen.“ Und unerwünschtes Engagement beendet auch berufliche Karrieren: „Menschen, die im öffentlichen Dienst arbeiten, wird der Job gekündigt, wenn sie demonstrieren.“

„Wer bei einer Demo verhaftet wird, wird der Universität verwiesen“

Teilnehmerin des Austauschs

Das eindrücklichste Erlebnis beim Bremen-Besuch war für viele aus der Gruppe der Umgang mit Menschen mit Behinderung. Dass die in Deutschland Anspruch auf Teilhabe haben, mit ihnen gearbeitet wird und sie berufliche und soziale Förderung erhalten, all das ist fremd. „Ich fühle mich ein wenig komisch in der Umgebung dieser Menschen“, sagt eine Teilnehmerin. „Bei uns begegnet man Menschen mit Behinderung nicht, es gibt sie nicht auf der Straße.“ Der Staat fördert Vorbehalte: In Weißrussland werde über Menschen mit Behinderung erzählt, sie wären aggressiv, erläutert ein Teilnehmer.

Dass auch in Deutschland nicht alles perfekt läuft, kriegt die Gruppe durchaus mit. Was überwiegt, ist allerdings die Faszination über die inklusiven und sozialen Einrichtungen, das Staunen darüber, wie sich Menschen selbst organisieren, wie viele Möglichkeiten sie haben, ihr Leben zu gestalten: In Weißrussland, so berichteten sie, wird ab dem Kindergarten bis zum Beruf das eigene Leben strikt vom Staat durchgeplant. „In unserer Zeit in Bremen haben wir oft die Situation hier mit der in Weißrussland verglichen. Ständig haben wir uns die Frage gestellt, warum es bei uns nicht so ist“, sagte eine Studentin.

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