piwik no script img

Steinreich an der Ostsee

Brodtener Steilufer Ein geologischer Spaziergang auf Deutschlands aktivstem Kliff, einem Erbe der Eiszeit

von Sven-Michael Veit

Wer mit Kerstin Pfeiffer unterwegs ist, wird schnell stein-reich. Unermüdlich sammelt die Geologin Steine vom Strand auf und erzählt dazu Geschichten. Über mehr als eine Milliarde Jahre alte Granite, über „Hühnergötter“, die lustigen Feuersteine mit dem Loch, über Gneis und Schiefer und die häufigen Rhombenporphyre, welche die Gletscher der Eiszeit aus dem Oslograben hierhergeschleppt haben. Und sie spricht über Jade und natürlich über Bernstein, das Gold der Ostsee. Denn unermüdlich wäscht das Meer Steine aus dem Brodtener Steilufer, die seit mindestens ein paar Tausend Jahren dort verborgen lagen und die noch kein Mensch vorher jemals sah. „Steine sind schön“, sagt Kerstin Pfeiffer, „und sie erzählen Geschichten.“

Vor allem an der Lübecker Bucht, denn dort gibt es die beiden aktivsten Kliffs Deutschlands. Klütz Höved in Mecklenburg-Vorpommern unweit von Boltenhagen ist das eine, das Brodtener Steilufer zwischen Travemünde und Niendorf das andere. Beständig verändern sie ihre Form, beständig verlieren sie einen Teil ihrer selbst an das Meer. Allein hier am gut vier Kilometer langen und bis zu 25 Meter hohen Brodtener Steilufer wird Deutschland Jahr für Jahr um rund 4.000 Quadratmeter kleiner, um etwa einen Meter weicht das Land jährlich vor der Ostsee zurück. Sorge um die Zukunft ihrer geologischen Spaziergänge macht sich Kerstin Pfeiffer dennoch nicht. „Für ein paar Tausend Jahre reicht das hier noch“, lacht sie.

Seit 2013 bietet Pfeiffer mit ihrem Verein Geo-Park Nordisches Steinreich Exkursionen in die Vergangenheit Norddeutschlands an. Am Schaalsee und in Kiesgruben im Südosten Schleswig-Holsteins oder an den beiden großen Ostseekliffs ist sie regelmäßig auf Spurensuche – mit Urlaubern, mit Einheimischen, mit Schulklassen. „Ein Programm für Kindergeburtstage haben wir auch“, sagt die 52-Jährige.

Klütz Höved und Brodtener Steilufer sind Geschöpfe der Eiszeit, vor 6.000 Jahren noch reichte das Land rund sechs Kilometer weiter nach Nordosten. Auf heutigen Seekarten ist dieser Dorn mit seinen geringen Tiefenlinien gut zu erkennen. Noch früher konnte man sogar trockenen Fußes nach Bornholm laufen: Die dänische Insel war einst eine Landspitze Norddeutschlands. Seit dem Ende der Eiszeit hebt sich Skandinavien beständig in die Höhe, befreit von einer bis zu drei Kilometer dicken Eisschicht, die das Land etwa 800 Meter tief in die Erdkruste gedrückt hatte. Die Hebung dauert noch an, fast einen Zentimeter pro Jahr wächst hier die Erde in den Himmel.

Es war eine große runde Gletscherzunge, die der Lübecker Bucht ihre Form gegeben hat. „Wie ein Hammer“, nennt Pfeiffer es, „das ist eine Form, wie sie das Eis typischerweise hinterlässt, wenn es da reinbulldozert.“ Bei der Schmelze bildete sich ein Stausee von 240 Quadratkilometern, ein Drittel so groß wie Hamburg, zwischen dem Gletscher und den Endmoränen im Süden. Dieser See, der über den Ratzeburger und den Schaalsee in die Elbe entwässerte, lagerte dicke Tonschichten ab, auf denen auch Lübeck gebaut ist.

Und deren nördliches Ende bilden die Küsten Mecklenburg-Vorpommerns und Schleswig-Holsteins mit ihren Steilufern. Pfeiffer weist auf die Farbunterschiede im Brodtener Kliff hin: „Oben sind so gelb-rote Töne, unten ist es grau“, sagt sie. Bauchig ist das untere Drittel, wo sich Haufen und Wülste gebildet haben. „Dieses Kliff besteht aus zwei Teilen“, sagt Pfeiffer, „unten ist Ton, oben Sand.“

Der Regen, vor allem im Winterhalbjahr, weicht die Oberfläche auf, dringt durch das sandige Material bis auf die Tonschicht und fließt dort raus, an vielen Stellen sprudelt auf halber Höhe Wasser aus der Uferwand. „Irgendwann wird der obere Teil instabil“, sagt Pfeiffer, „und rutscht auf dem glitschigen Ton einfach ab.“ Spätestens beim nächsten Sturm holt sich die Ostsee diesen Sand, von oben kommt Material nach, Bäume verlieren den Halt und stürzen ab, das Kliff wird immer instabiler und weicht zurück. „Das ist nicht überall gleich, es gibt aktive und nicht aktive Bereiche“, sagt Pfeiffer, mit Baumpflanzungen könne man den Boden stabilisieren, aber von Dauer sei das nicht. Der Abbruchprozess lasse sich nur verzögern, nicht verhindern.

Auf einer Karte aus dem Jahr 1900 steht das Haus „Seeblick“, ein Jugendheim der Stadt Lübeck, noch rund 200 Meter von der Kante entfernt. Jetzt trennt nur noch ein etwa drei Meter breiter Rad- und Wanderweg den Grundstückszaun von der Kante. Einen Kilometer weiter am höchsten Punkt des Steilufers, steht das im Sommer stets gut besuchte Café Hermannshöhe. Als das alte Gebäude aus der Kaiserzeit vor fünf Jahren durch einen Neubau ersetzt wurde, war die Kante noch 40 Meter entfernt, jetzt sind es keine 30 Meter mehr bis zur Terrasse.

In unmittelbarer Nähe musste Ende 2013 ein Wochenendhäuschen abgerissen werden, das abzustürzen drohte. Als es 1931 errichtet wurde, war die Kante noch fast 100 Meter entfernt; als es 1994 an einen Hamburger verkauft wurde, war der Wanderweg bereits hinter das Haus verlegt worden. Jetzt, nur zwei Jahrzehnte später, zeugt nur noch ein halbiertes leeres Grundstück von dem verschwundenen Holzhäuschen mit dem traumhaften Ausblick über das Meer. Wenn man von dort hinunterblickt, kann man sehen, wie die Ostsee unablässig weiter am Steilufer nagt. Und aus den Tonschichten unermüdlich uralte Steine neu herausspült – zum Entzücken von Kerstin Pfeiffer.

www.geopark-nordisches-steinreich.de; info@geopark-nordisches-steinreich.de

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen