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Das Rad wurde zweimal erfunden

Geschichte Unglaublich, das Fahrrad soll schon 200 Jahre alt sein. Und ausgerechnet ein Freiherr hat es in die Welt gerollt? Aber Wesentliches fehlte noch: Tretkurbeln plus Kraftübertragung per Kette oder Zahnriemen

von Helmut Dachale

Hätte Karl Drais schon gewusst, was Bikepacking ist, hätte er gesagt: Geht gar nicht! Für seine erste Radtour – die wohl allererste weltweit – kamen Wald- und Feldwege nicht infrage. Um nicht im Morast steckenzubleiben, wählte Drais eine befestigte Straße in Mannheim, Richtung Schwetzingen. So schaffte er mit seinem zweirädrigen Vehikel eine beachtliche Durchschnittsgeschwindigkeit von etwa 15 Stundenkilometern. Das war am 12. Juni 1817 – und das erste Presseecho war auch nicht schlecht: Es hätten sich „mehrere Kunstliebhaber von der großen Schnelligkeit dieser sehr interessanten Fahrmaschine überzeugt“.

2017 wird Drais’ Ausflug als historische Großtat gefeiert, „die Geburtsstunde der individuellen Mobilität“, so das Technoseum in Mannheim. Dort zelebriert man das aufwändigste aller Jubiläumsevents: die Große Landesausstellung Baden-Württemberg mit dem Titel „2 Räder – 200 Jahre. Freiherr von Drais und die Geschichte des Fahrrades“ (noch bis zum 25. Juni). Das Technoseum, eine der ersten Adressen für Technik- und Sozialgeschichte, präsentiert Drais’ Kreation als „Vorläufer des Fahrrades“. Der Drais-Biograf Hans-Erhard Lessing („Automobilität“) geht erheblich überschwänglicher zu Werke: Karl Drais – Techno-Superstar! Der Mann habe schließlich „das Zweiradprinzip an sich“ geschaffen, eine „Erfindung, welche die Welt verändern sollte“. Jawohl, bestätigt der pressedienst-fahrrad, Drais sei der Erfinder des Fahrrads und überhaupt „einer der größten Tüftler unseres Landes“.

Da ist Dankbarkeit angebracht, meint der Delius Klasing Verlag und hat eine „Danke Karl-Jubiläums-Verlosung“ gestartet. Zu gewinnen sind sechs „Traumräder“ (www.danke-karl.de). Keine Frage, Karl Drais – eigentlich Freiherr Drais von Sauerbronn – war ein kreativer Kopf und unruhiger Geist. Er soll ein sogenanntes Schreibklavier gebaut haben, beschäftigte sich mit der Mathematik und schlug sich fünf Jahre lang in Brasilien als Landmesser durch. Und vorher hat der Tausendsassa also noch das Fahrrad erfunden, tatsächlich?

1817 war er 32 Jahre alt, als Forstmeister beurlaubt, und das Ding, auf dem er Mitte Juni daherkam, ein hölzernes Gestell mit zwei hintereinander angebrachten Laufrädern. Der Wanderer hockte auf dem Mittelbalken, seine Füße erreichten locker den Boden. So konnte er sich nicht nur abstützen, sondern auch in Bewegung bringen. Rechts, links, rechts, links. Eine „Leitstange“ ermöglichte die Kurvenfahrt. Der Freiherr nannte es Laufmaschine, später waren auch Draisine, Laufrad und Veloziped gebräuchlich. Und heute ist sein Laufrad auferstanden als mobilitätspädagogisches Laufrädchen. Schon Zweijährige können so erste Erfahrungen sammeln mit Gleichgewicht und Geschwindigkeit und mit zur Seite springenden Erwachsenen.

Beim Blick aufs Drais’sche Artefakt oder auf einen der Nachbauten fällt allerdings auf: Wesentliches fehlt. Tretkurbeln plus Kraftübertragung per Kette oder Zahnriemen. Erstaunlich ist, dass Drais, der seit 1818 als Professor der Mechanik auftrat, nie auf die Idee kam, seine Laufmaschine in eine echte Fahrmaschine zu verwandeln. Dabei waren Trethebel oder -kurbeln zur leichteren Bewegung von Rädern längst ein alter Hut, Transmissionsriemen in Manufakturen gebräuchlich.

Als Drais 1851 starb, war seine Draisine so gut wie vergessen. Das Laufrad war tot, das Rad musste nochmals erfunden werden. War es ein Franzose, etwa der häufig genannte Pierre Lallement, der als Erster Pedalkurbeln an die Achse des Vorderrades schraubte? Offensichtlich lag die neue Antriebstechnik in der Luft, und so musste ab den 1860er Jahren beim Fahren nicht mehr gelaufen werden. Nun konnten die Füße pedalieren, hatten Bodenkontakt nur noch beim Stehen. Karl Drais dürfte an der Geburt des Pedalvelozipeds allenfalls so ähnlich beteiligt gewesen sein wie der Heilige Geist an einer anderen. Und auch wenn das neue Tretvelo zunächst zu einer Übergangstechnologie führte, zum unhandlichen Hochrad – Tretkurbeln und Pedale am Velo sind seitdem nicht mehr wegzudenken.

Richtig populär wurde das muskelbetriebene Zweirad gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der „Safety“-Version: Zwei Laufräder in der heute noch üblichen Größe, Tretkurbeln in der Mitte eines Metallrahmens, Kraftübertragung aufs Hinterrad. Eine ebenso geniale wie simple Technik, leicht beherrschbar und mit der Zeit immer erschwinglicher. Solcherart konfiguriert, war das Fahrrad, das jetzt auch so hieß, nicht mehr aufzuhalten. Heute sind es 72 Millionen, die hierzulande – in einem Autoland! – herumfahren oder -stehen. Das Fahrrad ist damit ähnlich verbreitet wie die Zahnbürste.

Karl Drais aber bleibt das historische Verdienst, 1817 ein Laufrad in die Welt gerollt zu haben. Womit er sich und einige Menschen seiner Zeit auf ungewöhnliche Art in Bewegung gebracht hat. Und heute Kindern das Erlernen des Fahrradfahrens erleichtert. Danke, Karl, wirklich.

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