Schulen in Nordrhein-Westfalen: Unterschriften gegen Turbo-Abi

In Nordrhein-Westfalen läuft ein Volksbegehren, das zum Abitur nach 13 Jahren zurück will. Es hat gute Chancen auf Erfolg.

Vater und Sohn essen gemeinsam Pizza

Einfach mal relaxen! Am Gymnasium ist das heute selten möglich, klagen Eltern und Schüler*innen Foto: imago/Westend61

Marcus Hohenstein ist fest entschlossen: Gemeinsam mit anderen Eltern will der Gymnasiallehrer für Physik und evangelische Religion das achtjährige Abitur abschaffen. Die Schüler*innen sollen wieder ein Jahr mehr Zeit bis zum Abschluss haben, findet Hohenstein, so wie vor der Einführung des G8 in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2004.

Seither hätten die Kinder nicht weniger Unterricht, kritisiert Hohenstein. Das fehlende Schuljahr werde einfach durch zusätzliche Stunden am Nachmittag ausgeglichen. „Damit werden die Freizeit- und Entfaltungsmöglichkeiten der Kinder massiv beschnitten.“ Damit Jugendliche wieder mehr am Musikunterricht oder am Vereinsleben teilnehmen könnten, sollte das „Turbo-Abi“ wieder entschleunigt werden.

Eine Forderung, die auch in anderen westdeutschen Bundesländern immer wieder laut wird. Nach Vorreiter Saarland im Jahr 2001 beschloss eines nach dem anderen mit Blick auf die europäischen Nachbarn die Verkürzung der gymnasialen Schulzeit. Kurz darauf klagten Schüler*innen und Eltern über Überlastung, Leistungsdruck, fehlende Freizeit.

Doch nur in einem Bundesland – Niedersachsen – wurde G8 wieder komplett zurückgenommen. Ab 2021 müssen dort alle Gymnasiast*innen wieder insgesamt 13 Jahre Bank drücken. Vielleicht folgt NRW als zweites Bundesland nach.

Bereits 2014 ­starteten Hohenstein und seine Mitstreiter*innen eine Volksinitiative. 112.000 Personen unterzeichneten. Genug, dass Hohenstein im Schulausschuss sein Anliegen vortragen durfte. Eine Mehrheit fand sich damals nicht.

Breite Zustimmung

Drei Jahre später stehen Hohensteins Chancen deutlich besser. Mit einem Volksbegehren will er die Politik zur Rücknahme von G8 zwingen. Seit vergangenen Donnerstag liegen die Unterschriftenlisten für „G9 jetzt in NRW“ in den Kommunen aus. Bis Anfang 2018 haben die 13 Millionen stimmberechtigten Bürger*innen Zeit, sich einzutragen.

Mit einer Unterschrift sprechen sie sich dafür aus, dass an den Gymnasien im Bundesland die Schulzeit wieder auf 13 Jahre verlängert wird und die tägliche Unterrichtszeit sechs Stunden am Tag nicht überschreitet. Kommt etwas mehr als eine Million Unterschriften zusammen (8 Prozent des Wahlvolkes), wird das Volksbegehren dem Landtag vorgelegt. Entscheidet sich dieser gegen den Gesetzentwurf, muss er einen Volksentscheid durchführen.

Momentan stößt das Volksbegehren auf breite Zustimmung. Rund 70 Prozent der Schüler*innen, Eltern und Lehrer*innen wollen zurück zum G9-Abitur. Das zeigt eine Studie der Landeselternschaft Gymnasien NRW, an der 54.000 Personen teilnahmen.

Grund für die Unzufriedenheit mit G8 könnte auch sein, dass die schwarz-gelbe Regierung nach ihrem Wahlsieg 2005 das verkürzte Abitur anders umsetzte, als alle Parteien es ein Jahr zuvor im Landtag beschlossen hatten. Das Konzept von CDU und FDP enthielt, dass die Schulzeit in der Sekundarstufe I gestrafft wurde – und damit nicht wie ursprünglich vorgesehen in der Oberstufe. An den Gesamtschulen wurde ­weiterhin an den 13 Jahren Schulzeit bis zum Abitur festgehalten.

Stellenabbau durch Verkürzung des Unterrichts

Doch es gibt auch Widerstand gegen das Volksbegehren. Die Landeselternschaft der integrierten Schulen in NRW etwa befürchtet, dass sich die angestrebte Gesetzesänderung auch auf ihre Schulen auswirke. Denn durch das Gesetz wäre vorgegeben, dass die tägliche Unterrichtszeit beschränkt werde, was praktisch einen Ganztagsunterricht unmöglich mache, auch wenn dieser bewusst gewählt wurde, etwa wenn Förderbedarf besteht. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) vermutet zudem, dass die Verkürzung der Schulzeit einen Stellenabbau zur Folge haben könnte.

Kritik am Volksbegehren gibt es auch von Schülerseite. Die Landesschüler*innenvertretung teilt zwar die Kritik am stressigen Turbo-Abi, befürchtet jedoch einen unüberlegten Schnellschuss, sollten die Weichen für G9 gestellt werden.

Gegen das Ganztagssystem beispielsweise hätten sie nichts einzuwenden, sagt Luca Samlidis vom Landesvorstand. Der Unterricht müsse aber dringend reformiert werden, hin zu mehr praktischem Lernen und stärkerer individueller Förderung. „Deshalb fordern wir auch die ­Einführung der inklusiven Ganztagsgesamtschule, in der unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder Behinderung gelernt wird. Das schafft Vorurteile ab“, betont der 17-jährige Gymnasiast aus Ennepetal. Die Oberstufenzeit betrüge bei diesem Modell zwischen zwei und vier Jahren.

Eine Rückkehr zu G9 schien in NRW lange weder für Regierung noch Opposition denkbar zu sein. Das ist nun anders.

Die Landesregierung reagierte bisher sehr verhalten auf die Kritik am G8-Abitur. Im Mai 2014 hat NRW-Bildungsministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) den „Runden Tisch zu G8/G9“ eingerichtet. Ergebnis waren Handlungsempfehlungen zur Verbesserung des G8-Abiturs. Eine Rückkehr zu G9 schien lange aber weder für Regierung noch für die Opposition denkbar. Lediglich ein Dutzend Modellschulen wurden auf G9 umgestellt.

Dies ist nun anders: Zwar wollte sich das Schulministerium mit Hinweis auf die Landtagswahl am 14. Mai nicht zu konkreten Plänen äußern. Die Grünen-Fraktion aber befürwortet derzeit ein Modell, bei dem die Eltern zwischen G8 und G9 wählen können. Ähnlich, wie es auch Hessen, Schleswig-Holstein und vor Kurzem auch ­Bayern beschlossen haben. Dort sollen die Schulen selbst entscheiden, ob sie acht oder neun Jahre bis zum Abitur anbieten wollen.

Koexistenz der Modelle

In Baden-Württemberg können Eltern ihre Kinder seit Mitte 2016 auf 44 G 9-Modellschulen schicken. Diese Schulen haben starken Zulauf. In Schleswig-Holstein bieten einige Schulen auch beide Modelle parallel an.

Optionen, die in NRW auch andere Parteien für möglich halten. Ähnlich wie die Grünen möchte die SPD den Eltern die Entscheidung für 12 oder 13 Schuljahre überlassen. Die CDU dagegen schlägt vor, dass die Schulen selbst entscheiden können, welches Modell sie umsetzen wollen, die Koexistenz beider Modelle an einer Schule sei aber nicht vorgesehen. Die FDP will die Koexistenz ermöglichen. AfD, Linke und die Piraten wollen dagegen G9 wieder zur Regel machen.

Was alle Parteien verbindet: alle plädieren für die Wiedereinführung eines G9-Modells am Gymnasium. Die Rücknahme des G8 – zumindest teilweise – scheint damit so gut wie beschlossene Sache. Wie genau das zukünftige NRW-Modell aussieht, wird sich allerdings erst nach der Landtagswahl zeigen. Auf der Agenda steht das Thema bei allen Parteien.

Bei Physiklehrer Marcus Hohenstein und vielen unzufriedenen Eltern sowieso.

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