: Nazis als Ersatzfamilie
SCHLÄGER-PROZESS
Am Mittwoch hätte die Braunschweiger linke Szene gerne aus erster Hand erlebt, wie der stadtbekannte Rechte Pierre B. zu einer Haftstrafe verurteilt wird. Er hatte drei Gewaltausbrüche eingeräumt, bei einem hatte er einem Schüler den Kiefer gebrochen. Doch Richterin Antje Gille verhängte zwei Jahre Haft auf Bewährung und 7.000 Euro Schmerzensgeld. Das Publikum war empört. Zu Recht?
Sven Adam, Anwalt der Nebenklage, bezeichnete den Bodybuilder zwar als „Protagonisten“ der rechten Szene, doch auch die Sichtweise des Verteidigers Andreas Zott scheint berechtigt. Demnach sei sein Mandant eher ein Mitläufer: „Er ist nicht intelligent genug, um als Gesicht der Braunschweiger Neonazis zu gelten.“ Auch der psychiatrische Gutachter Christian Riedemann beschreibt einen ganz anderen Menschen als die Flugblätter der Antifa. Demnach sei der Angeklagte „hart an der Grenze“ zur Schuldunfähigkeit.
Pierre B. habe unter einer – milde formuliert – schwierigen Kindheit gelitten. Seine Intelligenz liege im unteren Normbereich. Er gelte aufgrund seiner Rechtschreibschwäche als schwerbehindert. Auf diesem Nährboden hätten sich eine dissoziale Persönlichkeitsstörung und eine mittelschwere Depression entwickelt. „Och, der Arme“, spottete das Publikum.
Pierre B. sei, so der Psychiater, kein Psychopath, ihm fehle aber der emotionale Bezugsrahmen aus der Kindheit. Im rechten Milieu habe er seine „Ersatzfamilie“ gefunden und gerate aus „Solidarität mit seinen Freunden“ in Gewaltsituationen.
Dennoch ist es falsch, ihn als Mitläufer zu handeln. Riedemann betonte, Pierre B. sei nicht manipulierbar. Aussteigerprogramme hatte er mehrfach abgelehnt, sein öffentliches Facebook-Profil war Multiplikator rechter Propaganda. Er teilte unter anderem Fotos eines Dolchs mit dem SS-Wahlspruch „Meine Ehre heißt Treue“. Der Psychiater stellt fest: „In solchen Sätzen findet er sich wieder.“
Ob Pierre B. nur Faust oder auch Kopf der Braunschweiger Neonazis ist, bleibt unklar. Im Zweifel für den Angeklagten, verharmlost das Gericht die politische Gesinnung: „Er ist kein schwarz-weiß denkender Rassist“, sagte Staatsanwältin Julia Meyer. Richterin Gille stimmte zu: „Ich würde Sie schon als Neonazi einordnen, aber eine menschenverachtende Gesinnung ist bei den Taten nicht nachzuweisen.“ Auch Neonazis erhalten eine zweite Chance. LUT
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen