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Rückzug ins Private

Schlagloch von Ilija Trojanow Kritische Intellektuelle sind in der Türkei nur noch eine kleine Minderheit

Ilija Trojanow

ist Schriftsteller, Weltensammler und Autor zahlreicher Bücher. Darunter: „Der überflüssige Mensch: Unruhe bewahren“ (Residenz Verlag 2013) und „Macht und Widerstand“ (S. Fischer Verlag). Bei S. Fischer erschien Anfang Juli "Meine Olym­piade. Ein Amateur, vier Jahre, 80 Disziplinen“.

Auf der Istanbuler Buchmesse Mitte November ist die türkische Krise nicht unmittelbar sichtbar. Dichtgedrängt zieht ein überwiegend junges Publikum an einer Vielzahl von offensichtlich seriösen Verlagen vorbei. An den Ständen wie auch in den Buchhandlungen findet man noch die Bücher jener Autorinnen und Autoren, die ins Exil getrieben (Can Dündar) oder ins Gefängnis geworfen (Aslı Erdoğan) worden sind. Und der Stand „Almanya“ bietet ein breites Angebot an kritischem Diskurs, mit Hilfe ausgestellter Bücher auf Deutsch und Türkisch, von denen einige besonders „provokante“ (etwa über den Völkermord an den Armeniern) über Nacht zwar verschwinden, aber morgens von Mitgliedern der deutschen Delegation gleich wieder ersetzt werden.

Doch weder der Messestand noch die öffentlichen Diskussionsveranstaltungen sind besonders gut besucht, obwohl sich die Frankfurter Buchmesse und der Börsenverein des Deutschen Buchhandels Mühe gegeben haben, unangenehme und relevante Fragen auf die Tagesordnung zu setzen. Ich war auf drei Podien, jeweils bestückt mit bekannten einheimischen Intellektuellen, bei denen allseits Klartext geredet wurde – allerdings nur vor wenigen Zuhörern. Offensichtlich sind solche Oasen der freien Meinungsäußerung noch nicht heiß begehrt.

Rundumschlag der Macht

Die Messe ist eine Blase. Eine andere Realität wird durch die hohen Mauern und den Stacheldraht des Frauengefängnisses Bakırköy zum Ausdruck gebracht, in dem die momentan wohl berühmteste politisch Inhaftierte des Landes, Aslı Erdoğan, einsitzt. Hier treffen sich einige mutige Aktivisten mehrfach die Woche zu einer Mahnwache. Letzte Woche wurden sie unterstützt von einigen deutschen Verlegern und Autoren sowie dem Geschäftsführer des deutschen Börsenvereins, Alexander Skipis, der klare und nötige Worte zur Verurteilung der inakzeptablen Zustände fand.

Eine Frau teilt mir in gebrochenem Englisch mit, es sei merkwürdig, dass gerade Aslı derart verfolgt werde, sie sei eine wunderbare, couragierte Autorin, aber politisch eher eine naive Person. Beim Rundumschlag der Macht wird offenbar nicht genau abgewogen, wer der Macht gefährlich werden kann. Aslı Erdoğan geht es gesundheitlich schlecht, wie ihr Anwalt Erdal Dogan berichtet, vor allem, weil ihr die nötige medizinische Versorgung verweigert wird. In einer kaum zu überbietenden Farce werde sie einmal die Woche zum Krankenhaus gefahren, dort aber nicht behandelt.

Die Anklageschrift, die gegen sie vorbereitet wird, verlangt lebenslange Haft wegen der „Unterstützung einer terroristischen Organisation“. Das ist die staatliche Keule par excellence, die auch gegen viele andere geschwungen wird. Übersetzt bedeutet dieser juristische Mummenschanz: Da alle Gegner der Regierung Terroristen sind, erfüllt das Einfordern von Rechten gemäß der türkischen Verfassung den Tatbestand des Terrorismus. Selbst während des Osmanischen Reichs, kommentiert ein Journalist, hielt man sich mehr an die Gesetze.

Auch Journalisten der Zeitung Cumhuriyet befinden sich mittlerweile im Gefängnis. Gegenüber dem Redak­tionsgebäude steht eine Polizeieinheit in voller Schutzausrüstung, weil sich einige Dutzend Menschen zu einer Solidaritätskundgebung versammelt haben. Orhan Erinç, der Präsident der Cumhuriyet-Stiftung, die das Blatt finanziert, erinnert an die ähnlich schlimmen Jahre 1971 und 1980, als die Armee erfolgreich putschte. Auf die Ausrufung des Kriegsrechts folgten massenhafte Verhaftungen, die Unterdrückung der freien Presse. Eine Entwicklung, die damals vom Westen milde toleriert wurde. Der weite historische Horizont eines alten Mannes ruft in Erinnerung: 1980 wurden 178.000 Menschen verhaftet, 450 zu Tode gefoltert, 50 hingerichtet. Die Kolumnistin der Zeitung und Präsidentin des Türkei-PEN, Zeynep Oral, erklärt nüchtern: „Wir wollen die Arbeit unserer inhaftierten Kollegen so gut wie möglich weiterführen.“ Auf die Frage, was für Hilfe sie sich aus dem Ausland wünschten, antwortet Oran Erinc: „Wir wollen nur in Ruhe gelassen werden.“

Istanbul ist voller roter Fahnen, an zentralen Plätzen prangt der berühmteste Spruch von Kemal Atatürk: „Das Volk ist die Legitimation des Staates.“ Freier übersetzt: „Alle Macht geht vom Volke aus.“ Das ist nicht nur Demagogie. Seit 1950 ist die Türkei ein Staat mit regelmäßigen Wahlen, konkurrierenden Parteien und wechselnden Regierungen, abgesehen von den erwähnten Militärputschen. Sollte Erdoğan tatsächlich die demokratischen Institutionen und Tradi­tio­nen zerstören, wäre das ein historischer Bruch. Die meisten Menschen, mit denen ich ins Gespräch komme, sind sich unsicher, wie sie auf die Repres­sio­nen reagieren sollten. Eine Professorin in Ankara erzählt, gerade die jüngere Generation ziehe sich nun ins Private zurück.

Oasen der freien ­Meinungsäußerung sind bisher jedenfalls noch nicht heiß begehrt

Konsum statt Protest

Zweifellos sind viele Menschen verängstigt, nicht zuletzt wegen des äußerst brutalen Eingreifens der Polizei bei den Massenprotesten im Jahre 2013/14. Die kritischen Intellektuellen sind eine zunehmend marginalisierte Minderheit, aber man darf nicht vergessen, dass die damaligen Proteste in Istanbul und Ankara Menschen aller Couleur mobilisierten. Der in Ankara lebende Dichter Achim Wagner berichtet von Großmüttern mit Töpfen neben Studenten auf der Straße. Erst der Einsatz von Tränengas habe sie vertrieben.

In Ankara merkt man wenig von den aktuellen Zuspitzungen. Die in Zellophan eingepackten Einkaufszentren erstrahlen im Konsumglanz, der monumentale Präsidentenpalast thront auf dem Çankaya-Hügel. Mitten in der grünen Lunge der Hauptstadt steht das Mausoleum des Staatsgründers Kemal Atatürk neben dem Mausoleum des lebenden Präsidenten als Ausdruck einer Kontinuität der Macht. Die abstruse Architektur ist angeblich seldschukisch, doch eigentlich eine reine Erfindung und somit repräsentativ für den nationalistischen Mythos des Landes. In der Epoche, nach der sich Tayyip Erdoğan zurücksehnt, ließen sich die Sultane als „Schatten Gottes in der Welt der Menschen“ feiern. Das klingt auf Deutsch doppeldeutig: Gott in autokratischer Form ist nur ein Schatten seiner selbst.

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