piwik no script img

Riesige gierige Münder

Burkina Faso „Schlaflose Nächte“ heißt ein Programm über Kultur und Revolution in Burkina Faso am HAU. Es begann mit zwei bildgewaltigen und wortkräftigen Tanzstücken über Zensur, Apathie und Hysterie

von Astrid Kaminski

Wenn der Rapper Smockey in Burkina Faso die Stimme des Volkes ist, dann muss dieses Land aus außergewöhnlich intelligenten und poesiebegabten Menschen bestehen. Von Smockey wird gesagt, dass er als Gründer der Bürgerbewegung Balai Citoyen (Bürgerbesen) 2014 beim friedlichen Sturz des autokratisch regierenden Präsidenten Blaise Compaoré eine wichtige Rolle gespielt habe.

Auf der Bühne gibt er sich als apokalyptischer Poetenprophet mit einem Hang zu Baudelaireschen Alexandrinern und einer Verwandtschaft zu Allen Ginsberg und dessen berühmtem Protest-Gedicht „Howl“. Nur dass die Adressaten von Smockeys poetischer Wut diverser sind: Mitbürger*innen, Militärs, Mafiosi, Autokraten, Sozialisten, Kolonialisten, Kolonialisierte, Europäer, Afrikaner. Ein Abgesang. „Leere Mägen, die wie ein alter Köcher ihre Geschmeidigkeit einbüßen.“ Auf dem Friedhof sei noch Platz. Und: „Frauen mögen Verrückte.“ Und wie!

Zur Eröffnung des von Alex Moussa Sawadogo kuratierten Themenschwerpunkts „Schlaflose Nächte / Burkina Faso zwischen Kultur und Revolution“ im HAU stand Smockey mit dem burkinesischen Choreografen Serge Aimé Coulibaly, drei Tänzer*innen und einem über 70 Minuten lang rührungslos seinen Stuhl hütenden Düsterling, Typ Mafioso, auf der Bühne. Das titelgebende Tanzstück „Schlaflose Nächte in Ouagadougou“ kam an seinem Entstehungsort während der Revolution zur Uraufführung. Es hätte sicher geholfen, den Dokumentarfilm über die Ereignisse, der heute gezeigt wird, gleich zur Eröffnung ins Programm zu setzen. Etwas mehr politischer Kontext – wir Theateridioten denken bei Burkina Faso erst mal an Christoph Schlingensief – hätte das zwar tänzerisch für sich sprechende, aber doch mit Bezügen und Symbolen gespickte Stück noch mehr aufgeladen.

In Handy-Videos auf Youtube ist zu sehen, dass Blätterwedel (wie sie auf der Bühne vorkommen) bei Demonstrationen zum Einsatz kamen. Auch die Anspielung auf den Präsidenten Thomas Sankara (1983-1987), der mutmaßlich unter Mittäterschaft Campaorés ermordet wurde und sozialistisch orientiert war, bekommt mehr Gewicht, wenn sie sich zuordnen lässt.

Ähnliches gilt für das Stück „Geschrei der Arenen“ des in Frankreich arbeitenden Burkinabé Salia Sanou, das ebenfalls Gesellschaftskritik und historischen Kontext verbindet. Dass sich die acht Tänzer, von vier köstlichen Old-School-Rockern begleitet, für ihr Wrestlingstück mit den Farben der Nationalflagge von Obervolta schürzen, der einstigen Kolonie und später unabhängigen Republik, die erst von Sankara in Burkina Faso umbenannt wurde, hat sicher einen tieferen Sinn. Nur welchen? Aber auch ohne eine Antwort, lässt sich in die Stücke eintauchen. Hier der Alltag zwischen Zensur, Apathie, Hysterie, Folter, Tod, leeren Blicken, wie mechanisch aufgezogenen Irren. Dort die martialische Atmosphäre von Kampfsportteams mit ihren Gruppenritualen, Brustklopfern, Stampfern, Schlichtern und in traditionelle Tanzmustern fortgesetzten Energien.

Die Körpersprache von „Geschrei der Arenen“ ist dem Thema gemäß rauer, die Tatsache, dass einige der Performer wahrscheinlich keine ausgebildeten Tänzer sind, gibt dem Stück noch mehr Kante, noch mehr Ungestümes, was choreografisch gut gefasst ist. „Schlaflose Nächte“ hat dagegen internationales zeitgenössisches Vokabular in Tanztheaterfärbung im Repertoire. Vor allem bei Coulibaly selbst kristallisiert es zu einem eigenen Idiom, einer nervösen Vorstufe von Sliding. Mit langem Mantel und Sonnenbrille gibt er anfangs den dubiosen Geschäftsmann, der sein Aufziehpuppendasein wahrscheinlich nicht drogenfrei steuert.

Die großen Stärken beider Stücke sind ihre szenischen Setzungen und der Umgang mit dem Bühnenraum. Sowohl Sanou als auch Coulibaly haben sich Bühnenbilder bauen lassen, die eine eigene Bildsprache entwickeln. In „Schlaflose Nächte“ ist es vor allem der Akzent, der von dem auf einen Stuhl geparkten Düsterling als lebende Requisite ausgeht, der dem Set seine absurde Spannung verleiht. „Geschrei der Arenen“ ist dagegen komplett bildhaft durchkomponiert: von der Wickeltechnik, mit denen die Tänzer sich rote Fahnenbahnen um die weißen Boxershorts schürzen – eine formalistische Version der traditionellen Technik – bis hin zur Bühnenhinterwand aus aufeinandergeschichteten roten Luftkissen. Wie Punching-Balls wirken sie, aber auch wie riesige gierige Münder, von denen die Kraftprotze auf der Bühne immer mal wieder verschlungen werden. Vielleicht führt es zu weit, bei dieser blutroten Mauer auch an Europa und Amerika zu denken. Aber das ist ja gerade die Kraft von guten Bildern: Sie wuchern.

„Schlaflose Nächte“ am HAU läuft noch bis zum 19.11.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen