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Rostock macht in Weiss

Marathon Peter Weiss hat nie in Rostock gelebt. Seine Stücke wurden zu DDR-Zeiten in der Stadt inszeniert. Ein Kulturzentrum trägt seinen Namen und erinnert an die künstlerischen Bande. Dort wird nun „Die Ästhetik des Widerstands“ gelesen – drei Tage lang

aus Rostock Hannes Stepputat

Was verbindet Menschen so unterschiedlicher Professionen wie Robert Stadlober, Gregor Gysi und Bini Adamczak miteinander? Der eine ist Schauspieler, der andere Politiker, die dritte Publizistin. Alle drei sind bekennende Linke und werden zusammen mit 97 anderen vom 11. bis 13. November in Rostock anlässlich des 100. Geburtstags von Peter Weiss aus dessen Roman „Ästhetik des Widerstands“ lesen. Stadlober wird live auf der Bühne zu sehen sein, Gysi und Adamczak sind per Videoeinspielung dabei.

Die tausendseitige „Ästhetik“ gilt als Hauptwerk des linken Autors, Dramaturgen und Malers, der am 8. November einhundert Jahre alt geworden wäre. Ihm zu Ehren findet im Rostocker Kulturzentrum Peter-Weiss-Haus (PWH) die Stafettenlesung statt. Die Marathonlesung, die man auch Dauerrezitation nennen könnte, wird 50 bis 60 Stunden dauern. Das gesamte Werk soll nonstop gelesen werden. Stefan Nadolny, der 40-jährige Mitarbeiter des Kulturzentrums, organisiert die Lesung gemeinsam mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Wir treffen uns an einem Montagvormittag zum Interview im Café des Hauses. Die Stafettenlesung sei „der Versuch, ein Zeichen zu setzen. Wenn einhundert Leute zusammenkommen, das Buch lesen und ein Statement abgeben, was sie mit Peter Weiss verbindet, dann entsteht eine kollektive Erinnerung an ihn und ein Zeichen, welche Kunst und Kultur man sich eigentlich wünscht“, erklärt Nadolny.

Aber 60 Stunden lang? „Das Format der Lesung ist von vornherein so angelegt, dass es eine Überforderung mit sich bringt. 60 Stunden hält ja niemand durch.“ Die Besucher sollen selbst entscheiden müssen, was sie sehen wollen, und so zu „aktiven Konsumenten“ werden, sagt Nadolny. Alle Auftritte und die Statements der Lesenden werden später im Internet (www.peterweiss100.de) veröffentlicht. Für drei Jahre habe man die Rechte vom Suhrkamp-Verlag bekommen.

„Peter Weiss war ein sehr vielseitiger Künstler, der lebenslang auf der Suche war nach Ausdrucksformen, die sein Innenleben widerspiegeln, mit denen er aber – mit zunehmendem Alter – auch mehr und mehr einen politisch intervenierenden Anspruch hatte“, sagt Nadolny. „So ist er auch bekannt: als politischer Künstler, der mit seiner Kunst in das Zeitgeschehen eingreifen wollte.“ Seine persönliche Politisierung, und damit auch die seines Schaffens fand jedoch erst nach 1945 statt.

Weiss’ Ehefrau, Gunilla Palmstierna-Weiss, die 18 Jahre lang bis zu seinem Tod 1982 mit ihm verheiratet war, habe immer gesagt, Weiss sei sehr früh nicht politisch, aber sozial eingestellt gewesen, erzählt Nadolny.

Das Bindeglied zwischen Rostock und Weiss, der nie in der Stadt gelebt hat, ist das Volkstheater. In dem heute von einer Schlammschlacht um den ehemaligen Intendanten erschütterten und zum Spielball der Landespolitik gewordenen Haus wurden Weiss’ Stücke seit Mitte der sechziger Jahre inszeniert. Auch international wurde Weiss gespielt, sein bekanntestes Werk, „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade“, kurz: Marat/Sade, gewann 1966 den amerikanischen Theaterpreis Tony Award.

Peter Weiss zum 100. Geburtstag

Der Lesemarathon: Vom kommenden Freitag an lesen 100 Menschen live oder per Video die 1.000 Seiten von Peter Weiss‘ Roman „Die Ästhetik des Widerstands“ – nonstop. Am vergangenen Dienstag wäre der Autor 100 Jahre alt geworden. Das ist der Anlass der Lesung.

Freitag: Die Lesung beginnt mit einer chorischen Aufführung der ersten Romanblöcke durch Rostocker Schauspielerinnen und Schauspielschülerinnen. Weiter geht es unter anderem mit Videoeinspielungen von Claudia Roth, Gregor Gysi und Klaus Theweleit.

Samstag: Der zweite Tag der Stafettenlesung beginnt kurz nach Mitternacht mit der Leiterin der Rostocker Literaturhauses, Ulrika Rinke. Nach Stefan Nadolny, dem Spiritus Rektor der Veranstaltung, gibt es ein Video mit einer Romanpassage, die von Monchi, dem Frontmann der Band Feine Sahne Fischfilet, gelesen wird.

Sonntag: Der Lesemarathon endet laut Plan um 16.30 Uhr mit dem Schriftsteller Erasmus Schöfer, dessen Romanzyklus „Die Kinder des Sisyfos“ die linke Widerstandsgeschichte von 1969 bis 1989 nachzeichnet und so etwas wie die Brücke schlägt zu einer Ästhetik des Widerstands in der Gegenwart, die es noch zu schreiben gilt.

Das Stück handelt vom Streit zwischen Jean Paul Marat, von Weiss dargestellt als Kämpfer für die Gleichheit und Rechte von Bauern und Arbeitern, und Louis de Sade, Angehöriger eines Adelsgeschlechts und Verfechter der individuellen Freiheiten, der zu dieser Zeit in einer Irrenanstalt untergebracht ist. „Weiss inszeniert Marat/Sade als Dialog, als Diskurs um ‚Freiheit für alle‘ versus individuelle Freiheit‘“, sagt Nadolny.

Während des Kalten Krieges beobachtete die Theaterwelt gespannt, wie unterschiedlich der Stoff dies- und jenseits des Eisernen Vorhangs interpretiert wurde. „Die Westinszenierungen haben eigentlich immer de Sade das letzte Wort gelassen“, sagt Nadolny. Im Stück gehe es jedoch um eine Synthese zwischen den beiden Polen. „Wenn man de Sade das letzte Wort lässt, dann bekommt das eine Tendenz.“ In der Volkstheater-Inszenierung hingegen habe Marat die Oberhand behalten. „Später wurde dann gesagt, hier hätte die Bekehrung Weiss’ zum Sozialismus stattgefunden, sei der Saulus zum Paulus geworden“, sagt Nadolny.

Tatsächlich hatte Weiss sich von der Inszenierung sehr angetan gezeigt, seine Zustimmung später aber relativiert. „Vielleicht war ihm das dann auch zu deutlich zugespitzt auf Marat.“

Eine Hommage an Marat/Sade findet sich auch im Peter-Weiss-Haus: Seit drei Jahren besteht das Café Marat als Winteralternative zum Freigarten, der nur im Sommer geöffnet ist. Während der mit alten, dunkelrot gestrichenen Türen getäfelte Raum rauchfrei ist, können Besucher im separaten Raucherraum, dem Salon de Sade, dem „selbst verletzenden und selbst schädigenden Verhalten“ nachgehen, lacht Nadolny und wechselt den Akku seines Vaporizers.

Er betont, dass die Wahl des Namenduos Marat/Sade auf das Theaterstück zurückgehe und nicht auf die historischen Personen. Der reale Marat war zeitweise Anführer der radikalen Jakobiner und brachte eine Zeitung heraus, in der er den Tod von in seinen Augen zu moderaten Revolutionären forderte und ihre Namen veröffentlichte – nicht wenige bezahlten dafür mit ihrem Leben. Zum undogmatischen Selbstverständnis von Peter Weiss und damit auch des Hauses passe das nicht und sei auch nicht so gemeint.

Eine Inszenierung in Rostock soll Peter Weiss zum Sozialismus bekehrt haben

Das freie Kultur- und Bildungszentrum im Herzen der Kröpeliner-Tor-Vorstadt existiert seit 2009. Gebaut aus dem typisch nordischen roten Backstein war der Komplex in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein beliebtes Ausflugslokal, damals noch außerhalb der Stadtgrenzen gelegen. Nach 1945 wurde es zum „Haus der deutsch-sowjetischen Freundschaft“ und Ort für allerlei kulturelle Veranstaltungen, bevor das „HdF“ Mitte der neunziger Jahre schloss. 15 Jahre stand es anschließend leer, bis der heutige Betreiberverein es 2008 kaufte.

Heute ist das von den Rostockern häufig liebevoll „Peterschlösschen“ genannte Haus ein wichtiger Bestandteil der linken und alternativen Kultur der Hansestadt und Ort für Konzerte, Lesungen, Theaterstücke und Vorträge. Insgesamt fänden etwa 600 Veranstaltungen im Jahr mit einer fünfstelligen Anzahl von Besuchern statt, sagt Nadolny. Die unzähligen Besucher des Café Marat und des Freigartens sind da noch nicht mit gerechnet. Neben dem Peter-Weiss-Haus-Verein und einer Genossenschaft, die sich um die kommerzielle Bewirtschaftung durch Gastronomie und Konzerte kümmert, haben hier auch ein alternativer Bildungsträger und das Rostocker Literaturhaus seine Heimat. Öffentliche Gelder erhält das Haus nicht, nur einige der ansässigen Vereine werden gefördert und zahlen Miete.

Ziel und Anspruch des Hauses erklären sich aus dem Werdegang des Namensgebers. Stefan Nodolny meint: „Das ist doch spannend: Ein Mensch, der selbst einen Lernprozess durchmacht und durch seine Kunst nachvollziehbar macht, wie man sich politisiert und politische Ausdrucksformen für die eigene Sache findet.“ Seine Vielschichtigkeit mache Weiss so interessant und passend für das Haus. „Er bietet so viele Anschlussmöglichkeiten für heutige Fragen, dass man das programmatisch verstehen kann, sich Peter-Weiss-Haus zu nennen.“ Gleichzeitig sei ­immer klar gewesen, dass das Projekt ein aktuelles Verhältnis zu Weiss finden wolle und keine Stätte der Verehrung sei.

Ob Peter Weiss gemocht hätte, was in seinem Namen in Rostock passiert? Nadolny überlegt. „Hier wird vielleicht ein bisschen viel getrunken im Haus, aber dadurch wird es ja finanziert. Das hätte Peter Weiss nicht gefallen. Heißt es.“ Laut Gunilla Palmstierna-Weiss und Manfred Haiduk, dem ehemaligen Literaturprofessor der Universität Rostock und engen Freund und Wegbegleiter von Weiss, würde das Projekt jedoch mit Weiss’ Ansprüchen harmonieren: „Haiduk und Gunilla hab mal gesagt: Peter hätte das gefreut.“

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