Kulturaustausch Beim 3. Internationalen Jingdu Jurten-Forum für Poesie in Westchina
: Im Grasland kommt die Welt zusammen

Manche der Texte werden gesungen: Teepause auf dem Poesie-Festival Fotos: Cornelia Travnicek

Von Cornelia Travnicek

Wir kommen als Autokarawane. In schönster Ordnung fahren wir die Berge hoch: vorne die Polizei, dahinter zwei schwarze Wagen mit getönten Scheiben, in denen lokale Politiker, Sponsoren und wichtigere Mitglieder der Festivalorganisation reisen, dann der Bus mit den internationalen und der Bus mit den lokalen Poeten, am Ende eine Ambulanz. Unser Ziel liegt auf 3.300 Meter Höhe.

Wir sind in Qinghai, Westchina. Bis hierhin drang Kublai Khan mit seinen mongolischen Horden vor, hier mischt sich bis heute ihre Lebensweise mit denen der Bewohner des tibetischen Hochlands. Jetzt hängt ein monströs großes Porträt von Präsident Xi Jinping, von Staatsmedien noch bis Frühjahr „Großer Papa Xi“ genannt, gleich an der Flughafenausfahrt. Touristen, gar welche aus dem Ausland, dringen selten in diese Gebiete vor.

Hierhin lud das 3. Internationale Jingdu Jurten-Forum für Poesie Ende Juli Dichter und Dichterinnen aus aller Welt ein. Obwohl – nach den autonomen Gebieten Xinjiang, Tibet und Innere Mongolei – flächengrößter Teil Chinas, leben in Qinghai zwar nur unter sechs Millionen Menschen, dafür aber aus den unterschiedlichsten ethnischen Gruppen. Die Mehrheitsbevölkerung stellen die Han-Chinesen, außerdem wohnen hier muslimische Hui, Salar und Dongxiang, und die ansässigen Tu gehören wie Mongolen und Tibeter dem buddhistischen Glauben an. Man hat im Grasland Erfahrung mit Multikulti.

Das Festival ist gegenüber der hier herrschenden Multiethnizität noch einen Schritt weiter, das muss man betonen, quasi metakulti: Der als „US-amerikanisch“ geladene Schriftsteller hat einen österreichischen Vater (ausgewandert nach Amerika als etwas, was manche heute vielleicht einen Wirtschaftsflüchtling nennen würden, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts) und lebt seit einiger Zeit in China. Der „französische“ Poet ist dafür aus der Gegend, in der die Jurte des Festivals steht, „nur wenige Meilen von hier geboren“, wie die Organisatoren betonen, lebt seit Jahren in Frankreich und unterrichtet dort Tibetisch. Mit dem ägyptischen Autor, Sohn sudanesischer Eltern, kann ich mich auf Deutsch unterhalten. In Österreich, wo er seit über dreißig Jahren wohnt, trennt uns die meiste Zeit nur die Donau. Trotzdem mussten wir erst auf das Tibet-Hochplateau fahren, um uns persönlich kennenzulernen.

In der Jurte kommt also die Welt zusammen. Bei jedem der Auftretenden der chinesischen Seite wird erwähnt, welcher Ethnie er angehört und ob er in der jeweiligen Sprache vortragen wird. Einige Schriftsteller tragen Trachten, manche der Texte werden gesungen dargeboten. An einem der niedrigen Tische sitzen Mönche eines tibetisch-buddhistischen Ordens, Nachkommen von Mongolen, in rotorangen Kutten. In den Pausen machen sie Bilder mit ihren iPads.

Pferdefeste und Militärs

Seufz: Eine der liebsten literarischen Gattungen in China muss die Eröffnungsrede sein

Die Frauen des Jurtenpersonals mit den langen, geflochtenen Zöpfen und den bunten Kleidern wollen ebenso gern ein Erinnerungsfoto mit einem der internationalen Gäste machen wie diese mit ihnen. Reihum stellen sie sich neben dem Poeten oder der Poetin ihrer Wahl auf, während eine andere das glitzersteinchengeschmückte Smartphone zückt, um den Moment für die Internet-Ewigkeit festzuhalten. Wie viele dieser Fotos gleich darauf auf WeChat (chin. Weixin), der chinesischen Version von WhatsApp, gestellt werden, bleibt ungezählt. In diesem Augenblick sind sie alle gleich, ein Objekt der Neugierde der anderen.

An einem Morgen bricht die gesamte Delegation auf, um von der Ehrengasttribüne aus die Eröffnung des Nadamu, des mongolischen Pferdefestes, zu sehen. Schnell gelangt man zu der Erkenntnis: Eine der liebsten literarischen Gattungen in China muss die Eröffnungsrede sein. Die Sonne steht steil am Himmel, aber im Schatten bleibt es kalt. Den Rand der Absperrungen säumen abwechselnd Swats mit Schlagstöcken und Militärs mit Sturmgewehren und schweren Schilden. Wer vor wem beschützt wird, das wissen wir nicht. Die Toiletten sind kleine Betonhäuschen mit mehreren Löchern im Boden. Strategisch auf dem Weg zwischen Zuschauerwiesen und Plumpsklo hat sich ein Händler mit seinem Stand voll Plastikschmuck und Kinderspielzeug niedergelassen. Der rumänische Dichter lässt sich von ihm übers Ohr hauen und freut sich wie ein kleiner Junge über die Steinschleuder, die er für umgerechnet 5 Euro erstanden hat. Überhaupt gefällt ihm dieses China sehr gut, das sieht man ihm an, das sagt er auch; nicht einmal, dass er am ersten Morgen im Hotel vergessen wurde, nimmt er übel. Er ist alt genug, um von der Zeit unter Ceaușescu erzählen zu können.

Die internationalen Poetenfreunde würden gern zum Shoppen gehen, ihr Geld gegen Ohrringe, Yakmilch-Süßigkeiten und Jacken mit langen Ärmeln tauschen. Allein, es bleibt keine Zeit für Konsum, im Museum harrt eine sehr lange Bilderrolle der betrachtenden Augen. Während der allerersten Busfahrt hatte es eine Einführung zu Land und Leute gegeben. Die Gegend ist arm, China investiert hier, war der Tenor. Wir haben Straßen gesehen, an denen gearbeitet wird, halb fertige Brücken, Hochhäuser, die noch leerstehen. Die Ausländer würden gern einkaufen, sage ich zu einer der Mitarbeiterinnen der Organisation, sie möchten Souvenirs haben für sich selbst, für ihre Familie zu Hause. Ihr sprecht die ganze Zeit von Investitionen, von der Ankurbelung der Wirtschaft, und diese Leute hier haben Geld und ihr lasst sie ihr Geld nicht ausgeben. Sie lächelt mich nur an und sagt: Das Museum wartet.

Das „Jingdu“ im Titel des Festivals ist der Name einer Mineralwasserfabrik. Die Firma wird von einer Dame mit guter Frisur, gutem Make-up und guter Kleidung vertreten, die sich über nichts mehr freut als über Poeten und Funktionäre, die mit einem breiten Lächeln und erhobenen Daumen Mineralwasserflaschen in Kameras halten. Vorab mussten alle Teilnehmenden ein Essay einreichen, Thema: „Water & Rivers: Origins of Life vs. Poetry“. Ein ganzer Nachmittag ist dem Vortrag dieser Essays gewidmet. Die Schreibenden sprechen sehr gewandt von den Flussläufen ihrer Heimat, vom Fließenden in der Poesie, von Mineralwasser spricht hingegen niemand.

Stolz auf Ämter und Titel

Wer vor wem beschützt wird, bleibt unklar

Die Hauptorganisation liegt beim Chinesischen Schriftstellerverband, dem untergeordneten Schriftstellerverband der Provinz, und dem wiederum untergeordneten … usw. Funktionen gibt es viele in dieser staatlichen Organisation. Ämter und Titel werden von den chinesischen Kollegen stolz in ihrer Vita aufgezählt. Der ein oder andere ist auf seinem Autorenfoto in der Anthologie in Militäruniform zu sehen. Das Festival selbst schwebt im Überspagat, einen Fuß auf der Staatsorganisation, den anderen auf dem privaten Sponsor. VIP des Forums ist einer namens Jidi Majia, geboren in Sichuan, Angehöriger des Yi-Volkes, Poet, Übersetzer, ein lokaler Star, ein Mann mit vielen Funktionen. Bis jetzt war oder ist er unter anderem stellvertretender Vorsitzender und Sekretär des Chinesischen Schriftstellerverbandes, Mitglied des Parteikomitees und Chef der Propaganda-Abteilung von Qinghai. Das „Majia“ seines Namens spricht die brasilianische Kollegin wiederholt portugiesisch magia aus, also Magie, und ich denke, sie hat recht, er ist der Magic Jidi hinter dieser ganzen Show.

Während der Rückfahrt sehen wir aus dem Busfenster wieder muslimische Hui-Männer, die eine Kappe, eine weiße Tagiya tragen. Mädchen tollen im Hidschab herum. In der an Qinghai grenzenden Uigurischen Autonomen Region Xinjiang ist in manchen Städten in öffentlichen Verkehrsmitteln das Tragen von Burka und Nikab verboten, ebenso zu lange, buschige Bärte.

Wir haben in drei Tagen viele hundert Höhenmeter hinter uns gebracht. Langsam wird die Luft wieder dicker. Im Bus äußert die Brasilianerin einen Gedanken, der sie nun scheinbar schon länger beschäftigt: „Die Chinesen tun wenigstens etwas für ihre Minderheiten. Lebensweise, Kleidung und Traditionen werden gewahrt, hier wird Geld investiert – das ist mehr, als wir schaffen.“ Ich versuche etwas zu erwidern, das mein Gefühl ausdrückt, dass eine Sache oft zwei Dinge gleichzeitig sein kann, und erzähle ihr, dass die Mongolen, als sie diesen Teil Tibets regierten, sich selbst bereits als Yuan-Dynastie sahen, sinisiert durch ihre eigene Herrschaft.

Die Autorin, geboren 1987, lebt als Schriftstellerin in Niederösterreich. Sie schrieb u. a. die Romane „Chucks“ und „Junge Hunde“ (dva)