Das Projekt offene Gesellschaft

Kulturkampf Wir Progressiven müssen die Kampfansage der Völkischen aufnehmen. Und Bündnisse schmieden, bis weit ins liberale Milieu

Jan Feddersen

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ist taz-Redakteur für besondere Aufgaben. Er koordiniert die Veranstaltungsreihe taz on tour/für eine offene Gesellschaft.

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von Jan Feddersen

Europa ist in der Krise, aber nicht in ökonomischer Hinsicht, sondern in der Vorstellung von dem, was es sein will. Eine Union, in der libertäre Werte gelten und eine Pluralität von Lebensstilen gelebt werden kann? Oder ein christlich durchmoralisierter Kontinent, der, wie Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán, die „illiberale Demokratie“ für eine Tugend hält und nicht für eine Chiffre für minderheitenfeindlichen Nationalismus?

Freilich: Die Erfolge von Rechtspopulisten in Europa haben eine wichtige Voraussetzung. Sie profitieren von der Schwäche sozialdemokratischer Parteien. Diese linken Formationen haben ihren Markenkern verraten, und das sind Gerechtigkeitsfragen. Etwa in der Bildungs- und Sozialpolitik. Sie sind kaum mehr Repräsentanten gesellschaftlichen Aufstiegs- und Äußerungswillens. Rechtspopulisten haben diese „verratenen Milieus“ erobert.

Abgestoßen vom großen Geld

Nicht nur in Frankreich mit dem Front National. Auch in Dänemark, den Niederlanden oder Belgien – und ebenso in Polen. Dort konnte die nationalkonservative PiS-Partei die von der ökonomischen Mobilisierung des großen Geldes durch die liberalkonservative Partei Donald Tusks und die korrupten postsozialistischen Eliten abgestoßenen Schichten gewinnen.

Mit einer Moralanrufung an die in diesem Land dominierende Volksfrömmigkeit gelang es dem Regime Ja­rosław Kaczyńskis, all das verächtlich zu machen, was in Deutschland von der AfD so formuliert wird: Schluss mit dem „links-rot-grün versifften 68er-Deutschland“ (Jörg Meuthen). Die liberale Idee des Westens soll unter dieser kulturkämpferischen Generalüberschrift geschleift werden.

Und dieses Projekt muss unbedingt ernst genommen werden: Sie werden tun, was sie sagen, kommen sie an die Macht. Für Jüngere – und nicht einmal nur Linke und Alternative – mag der Spruch des Vizechefs der AfD kurios klingen: Achtundsechzig? Waren das nicht ungepflegte Bärte und bizarrer Theoriekeuchhusten? Und versifft – lädt diese Vokabel nicht zur Ironisierung ein? Weil fast kein Mensch mehr weiß, dass die Syphilis, Infektionskrankheit nach sexuellen Ausschweifungen, für Entgrenzung und Verletzung der Sittlichkeitsgesetze stand?

Die aktuell erfolgreichste politische Bewegung in Europa steht für die planvolle Rückentwicklung dessen, wofür – irrigerweise oft – die Achtundsechzigerbewegung steht: eine Vorstellung von Gesellschaft, die Hass und Gewalt nicht ertragen will; die Mann und Frau gleichberechtigt sieht; die züchtigende Handlungen gegen Kinder, überhaupt gegen Schwächere nicht dulden möchte; die Heterosexualität nicht per Gesetz zur Lebensstilpflicht erhebt; die die Figur des Anderen (sei es ein*e Migrant*in, ein*e Exzentriker*in oder ein*e um Asyl Bittende*r) nicht schroff abweist, sondern sie als Teil einer willkommen heißenden Gesellschaft versteht.

Dazu gehört ganz ausdrücklich auch Freisinn im Hinblick auf religiöse Rechte: Im Zweifelsfall wird eine ziemlich blickdichte Performance muslimischer Frauen mehrheitlich missbilligt, aber die gleichen, die dies nicht gutheißen, sind gegen Verbote. Religionsfreiheit gilt in einer offenen Gesellschaft als heilig, keine Glaubensüberzeugung genießt Privilegien, jedenfalls nicht prinzipiell. Deutschland ist längst mehr als ein christliches Land, es ist auch (wieder) jüdisch, und auch muslimisch. Hauptsächlich aber: glaubensfern – Gottlose genießen Schutz.

Rechtspopulisten wie die AfD wollen in diese libertäre Gesellschaft einen Graben ziehen, eine Mentalität von kultureller Apartheid verankern: Hier die Guten, Ordentlichen – dort die Freaks, und wer sowieso kein Deutscher ist, sollte lieber raus. In der Tat liegt Frauke Petry mit ihrer scheinnaiven Bemerkung, „Völkisches“ sei doch nicht schlecht, für ihre Kundschaft goldrichtig: Es ist die Fantasie von einem Volk ohne Syphilis – die die NS-Ideologen auch anriefen, nur standen für Lüste damals Juden und nicht, wie aktuell, die Szenen der verkeimten Linken und Alternativen mit ihrem Fimmel, um das Volk mit Islamfreundlichkeit zu zersetzen.

Die offene Gesellschaft muss, in diesem Sinne, die Kampfansage der Völkischen aufnehmen. Hierfür sind Bündnisse zu stiften. Die buchstabieren sich nicht wie Rot-Rot-Grün. Sondern wie: Angela Merkel gegen rechtspopulismusnahe Angriffe der CSU in Schutz zu nehmen. Auch die FDP muss in diese Allianz eingeladen werden. Die Parteiliberalen waren es schließlich, die mit Willy Brandts Sozialdemokratie wesentliche Fortschritte des „Versifften“ in den 60ern und 70ern gesetzlich mit durchgesetzt haben.

Die Feinde der offenen Gesellschaft werden tun, was sie sagen, kommen sie an die Macht

Keine kleinlichen Kämpfe mehr

Die Achtundsechziger und ihre Erb*innen müssen auf kleinliche Feind­erklärungen verzichten. Bis weit ins bürgerlich-liberale Milieu hinein muss dieses Bündnis reichen. Von SPD und Linkspartei sollte verlangt werden können, bürgerliche Freund*innen der offenen Gesellschaft nicht abstoßen zu wollen; die FDP hingegen dürfte keine Front gegen eine Sozial-, Wohnungs- und Bildungspolitik machen, die den Abgehängten eine Teilhabe an dieser offenen Gesellschaft überhaupt erst wieder ermöglicht: Freiheit ist ja erst genießbar, hat ein Mensch keine grundsätzlichen Lebenssorgen (mehr).

Anders formuliert: Die FDP mit ihrem Guido-Westerwelle-Ballast muss wieder sozialliberal werden, oder sie ist wirklich nicht mehr nötig. SPD und Linke müssen auf Neiddebatten auf Kosten von Migrant*innen und Flüchtlingen verzichten: In diesen mit Missgunst gefüllten Teichen ist nur trüb fischen.

Die Grünen hätten eine andere Zumutung zu verkraften: mit Milieus und Menschen auskommen zu müssen und zu wollen, die deren elitären Gestus verabscheuen, deren polyglotte Allüren nicht draufhaben, kulturell einen, grün gesehen, schlechten Geschmack haben – und obendrein immer so viel Lärm machen.

Die offene Gesellschaft entzieht sich dem Fortschrittlich-vs.-konservativ-Lagerdenken. Sie ist immer auch ein – gelegentlich erschöpfendes – Abenteuer. Sie ist die wichtigste Opposition zu allem, was völkisch bedeuten kann.