5.18 ist noch nicht vorbei

SÜDKOREA Bei der Gwangju Biennale zeigen die Künstler die Diskrepanz zwischen offiziellem und persönlichem Gedenken auf – außerdem werden aus Steinen Emoticons

siren eun young jung, Act of Affect, 2013, Videostill Foto: Gwangju Biennale 2016

von Julia Gwendolyn Schneider

Die Geschichte der Gwangju Biennale ist untrennbar verbunden mit dem niedergeschlagenen Protest auf der Straße zu Beginn der achtziger Jahre in Südkorea. Am 18. Mai 1980 mobilisierte die Bevölkerung gegen das Militär, das die studentische Demonstration gegen die Militärdiktatur gewaltsam beenden sollte. Viele Zivilisten wurden grausam getötet, doch acht Tage lang leistete die Stadt Widerstand. Die Biennale wurde 1995 als kulturpolitisches Signal dafür etabliert, dass der Aufstand ein Schlüsselereignis in der demokratischen Entwicklung Südkoreas darstellt.

In der elften Auflage der Biennale unterzieht Dora García dem Aushängeschild nun einen kritischen Blick. Die Künstlerin sieht in Gwangjus Monumenten zum Gedenken an den Aufstand vor allem einen institutionalisierte Umgang mit der Vergangenheit. Die offiziellen Erinnerungsformen der Regierung könnten den Unmut der Protagonisten und ihrer Familien nicht vertreiben, glaubt sie. Für viele Menschen sei „5.18“ noch nicht vorbei. Entsprechend gebe es ein paralleles Gedächtnis – etwa die Erfahrung, die mit dem alten Friedhof und dem Lied „March of the Beloved“ zusammenhinge.

Der legendäre Nokdu-Buchladen

Für eine alternative Auseinandersetzung ließ García den legendären Nokdu-Buchladen nachbauen, jenen Ort, an dem der Gwangju-Aufstand ausgebrütet wurde, man über die Pariser Kommune diskutierte, Frauen sich gegen die Gewalt organisierten, man sich den falschen Informationen widersetzte, Tote verhüllt und betrauert, Bücher verkauft wurden, diskutiert und gelesen wurde. Die Kopie funktioniert im Ausstellungsraum als realer Buchladen mit thematisch relevanten Büchern, Künstlermonografien und Theoriebänden. Gleichzeitig finden Workshops und Diskussionsrunden statt, bei denen etwa die Frauen der aufständischen Männer zu Wort kommen, über ihre damalige Rolle sprechen und darauf verweisen, dass auch heute viel ungeklärt ist: Die Zahl der Toten schwankt je nach Quelle enorm, Befehlshaber wurden nicht bestraft, viele Menschen werden noch vermisst.

Dora García zählt zu den 28 Künstlern der insgesamt 101 Beteiligten, die Maria Lind dazu einlud, neue Arbeiten für die 11. Gwangju Biennale zu schaffen, und ihnen die Möglichkeit gab, sich auf den lokalen Kontext zu beziehen. Unter dem Titel „The Eighth Climate (What Does Art Do?)“ stellt Lind, Direktorin der Tensta Konsthall in Stockholm, die Frage nach den Möglichkeiten der Kunst. Ihr geht es nicht um eine definitive Antwort. Vielmehr gibt sie eine experimentelle kuratorische Richtung vor.

Anders als bei den meisten Großveranstaltungen dieser Art stehen die Kunstwerke im Zentrum und nicht ein Thema, dem sie veranschaulichend zugeordnet werden können. Der erste Teil des Titels, „The Eighth Climate“, bezieht sich auf eine Vorstellung aus der persischen Philosophie des 12. Jahrhunderts, die eine Zone zwischen dem Materiellen und dem Immateriellen thematisiert. Der gewählte Begriff verweist auf einen Möglichkeitsraum, der fantasievolles Wissen erzeugt und für Lind vergleichbar mit dem Bereich der zeitgenössischen Kunst ist. Die kuratorische Offenheit mag Zweifel an der Qualität der Ausstellung erwecken, tatsächlich kommt diese Biennale aber sympathisch unaufgeregt daher, und ihrer kaleidoskopischen Perspektive gelingt es sehr gut, Zugänge zu vielschichtige Arbeiten zu entfalten.

Auch Tommy Støckel hat sich von den Gegebenheiten in Gwangju inspirieren lassen. In „The Gwangju Rocks“ (2016) treffen Felsen im Stadtbild und Emoticons in der zwischenmenschlichen Kommunikation aufeinander. 24 Steine, die Støckel in Gwangju entlang von Fußgängerwegen, in Gärten oder vor Gebäuden angetroffen hat, fing er nachts mit dem 3-D-Scanner ein. Vergleichbar mit koreanischen Tofu- oder Spiegeleier-Emoticons ließ Støckel die Steine zu digitalen Charakteren werden, die Gefühle ausdrücken. Ob sich mit diesen „Gwangju Rocks“ kommunizieren lässt, kann jeder selbst online testen, sie stehen zum Download zur Verfügung. Im Ausstellungsraum sehen wir hingegen Momentaufnahmen der digitalen „Aktionen“ dieser Felsen. Erstarrt posieren sie in einem minimalistischen Rasterfeld.

Bei aller Heterogenität sticht Galerie 2 der Hauptausstellungshalle durch ihre Dunkelheit hervor. Marie Kølbæk Iversen erschafft hier mit Dias aus Lapislazuli-Steinplatten ein rorschachähnliches Projektionsbild, dessen hypnotische Schönheit dunkle Untertöne durchziehen. „Mirror Therapy“, wie die Arbeit sich nennt, ist eine Therapieform für Menschen mit Amputationen. Oft kommt sie bei westlichen Kriegsveteranen zum Einsatz, die in Afghanistan kämpften, jenem Land, aus dem Lapislazuli ursprünglich stammt. Unweit davon zeigt das Video „Fog and Smoke“ (2013) von Jeamin Cha, Südkoreas verrufene Planstadt Songdo. Im Fokus steht aber nicht die bekannte Kritik an der komplett von Smart-Technologie durchzogenen Stadt, sondern die verdrängten Fischermänner. Siren Eun Young Jungs „Act of Affect“ (2013) greift die Tradition des koreanischen Yeosung Gukgeuk-Theaters auf, ein queeres Genre, bei dem Frauen auch in Männerrollen auftreten.

Erstmals erhalten alle Künstler ein Honorar

Während die Biennale durch aussagekräftige Arbeiten überzeugt, ist es ebenso wichtig zu erwähnen, wie Lind sich innerhalb der Institution und der Stadt positioniert hat. Zum allerersten Mal erhielten alle Künstler ein Honorar. Zur Eröffnungswoche lud Lind kleine und mittlere Kunstinstitutionen aus der ganzen Welt zu einem Forum ein, um ihre Relevanz in der Kunstwelt zu betonen. In Kooperation mit der lokalen Künstlerinitiative Mite-Ugro veranstaltete sie zuletzt monatliche Treffen, die Bewohner rings um die Hauptausstellungshalle wurden zum Teetrinken mit den Biennalisten eingeladen, während in einer sogenannten Infra-School Diskussionen, Seminare und Vorträge in koreanischen Universitäten und Kunstschulen gehalten wurden. Wie nachhaltig diese lokale Anbindung in Zukunft sein wird, bleibt abzuwarten. Wesentlich ist erst einmal, dass danach gefragt wurde, was eine Biennale macht und worin ihre Aufgaben liegen sollten.

11. Gwangju Biennale, The Eighth Climate (What Does Art Do?), bis 6. November