: Kampf um den Fahrstuhl
Hamburg Die Hochschule für angewandte Wissenschaften ist barrierefrei – die zugehörige U-Bahn-Station war es lange nicht. Doch jetzt kommt Hamburg unter Gesetzesdruck
Manchmal ist es nur eine kleine Stufe, eine zu schmale Tür, eine Treppe oder eine hohe Bordsteinkante. Claas Dewoss vom Behindertenverband „Autonom Leben“ kennt die großen und kleinen Hürden im Alltag. Für Rollstuhlfahrer sei Hamburg noch immer eine Stadt voller Barrieren, sagt er: „Kneipen oder Restaurants sind selten barrierefrei, eine behindertengerechte Wohnung zu finden, ist ein Kraftakt.“
Für all jene, die körperlich eingeschränkt sind, beginnt das Problem schon im Nahverkehr. Das Hamburger U-Bahn-Netz ist über 100 Jahre alt, viele Stationen wurden in einer Zeit gebaut, in der Menschen mit Behinderung keine Lobby hatten, Barrierefreiheit bei Bauprojekten nicht berücksichtigt wurde. An vielen Stationen fehlen folglich noch heute Fahrstühle oder Orientierungshilfen für Blinde, zwischen Bahnsteigkante und U-Bahn klaffen oft große Lücken, die mit Rollstuhl oder auf Krücken kaum zu überwinden sind.
Da nützt es wenig, wenn in anderen Bereichen behindertengerecht gebaut wird, wie Studierende der Hochschule für angewandte Wissenschaften (HAW) erfahren mussten: Der Campus der Fakultät für Medien, Design und Information im Stadtteil Uhlenhorst ist zwar seit seiner Eröffnung im Jahr 2010 komplett barrierefrei, die nächst gelegene U-Bahnhaltestelle war es bis zum Frühjahr 2015 aber nicht. „Was bringt es, wenn wir auf allen Stockwerken Fahrstühle einbauen, in Hörsälen und Seminarräumen die Türen verbreitern, Rollstuhlfahrer aber gar nicht erst zum Campus kommen?“, fragt Dekanin Dorothea Wenzel.
An der ganzen Fakultät gebe es pro Semester etwa zwei bis drei Studierende, die auf große Rollstühle mit Motorbetrieb angewiesen seien. „Ein fehlender Fahrstuhl entscheidet darüber, ob jemand weiter studieren kann oder nicht.“, sagt Wenzel. An der U-Bahn-Haltestelle Mundsburg gibt es nun seit März 2015 zwei gläserne Aufzüge, zudem wurden Bahnsteige erhöht, Leitsysteme für Blinde in den Boden am Gleis eingebaut, eine anliegende Blindenschule wurde in die Planung einbezogen.
Hochschulleitung und Asta hatten sich jahrelang für einen Umbau ausgesprochen, realisiert wurde er aber erst mit dem Programm „Barrierefreier Ausbau“, das die Hochbahn, der Betreiber der U-Bahn, 2011 gestartet hat. Warum so spät? Hochbahn-Sprecher Christoph Kreienbaum verweist auf die Finanzen: 2011 habe Bürgermeister Olaf Scholz 32 Millionen Euro zugesagt – der Anstoß für das Programm. „Vorher haben uns die Mittel gefehlt, wir konnten höchstens zwei Haltestellen pro Jahr umbauen“, so Kreienbaum.
Unter Druck
Tatsächlich hat die Hochbahn in den vergangenen fünf Jahren das Tempo beim barrierefreien Ausbau beschleunigt. 59 von 91 U-Bahnhöfen werden bis Ende des Jahres barrierefrei, gerade werden zehn Haltestellen ausgebaut. Bis Anfang des kommenden Jahrzehnts soll das ganze Streckennetz ohne Barrieren sein.
Seit 2007 treibt auch die Deutsche Bahn den Ausbau mit einem „Programm zur Steigerung der Haltestellenattraktivität“ voran, 79 Prozent der Hamburger S-Bahn-Stationen sind inzwischen barrierefrei. Auch hier heißt es: Alle Haltestellen sollen spätestens 2021 umgebaut sein, wie Sprecherin Angelika Theidig bestätigt.
Behindertenverbände erkennen das neue Engagement der Verkehrsbetriebe an. „Es ist gut, dass das Thema endlich angegangen wird. Heute ist es für Menschen mit Behinderung schon wesentlich leichter, die Bahn zu nehmen“, sagt Johannes Köhn, Geschäftsführer der Landesarbeitsgemeinschaft für Behinderte Menschen. Bis vor fünf Jahren sei die Lage allerdings auch „dramatisch schlecht“ gewesen, im Vergleich zu anderen Großstädten wie München hätte Hamburg viel zu lange hinterhergehinkt. „Die Hochbahn hat heute ohnehin keine Wahl mehr, sie ist zum Umbau verpflichtet“, sagt Köhn und meint damit das neue Personenbeförderungsgesetz: Seit einer Gesetzesänderumg im Jahr 2013 schreibt es völlige Barrierefreiheit im öffentlichen Personennahverkehr bis 2022 vor.
Ganz reibungslos funktioniert die Umstellung auf Barrierefreiheit dann aber doch nicht. „Die größte Hürde ist immer der Weg zum Bahngleis. Und alle Umbauten sind sinnlos, wenn der Fahrstuhl kaputt ist. Das passiert leider sehr oft, die Reparaturen ziehen sich dann schon mal über Monate hin“, sagt Claas Dewoss vom Behindertenverband „Autonom Leben“.
Auf der Homepage des Hamburger Verkehrsverbundes gibt es gar eine Karte, die per „Live-Auskunft“ alle ausgefallenen Fahrstühle anzeigt – nach aktuellem Stand ist an 17 S- und U-Bahnstationen mindestens ein Fahrstuhl außer Betrieb. Woran das liegt? Zum einen gebe es „planmäßige Störungen für Wartungs- und Instandsetzungsmaßnahmen“, so Hochbahn-Sprecher Kreienbaum. Bei kleineren technischen Defekten rückten Mitarbeiter auch selbst zur Reparatur ran, ansonsten werden externe Firmen damit beauftragt, die Störung zu beheben.
15 Monate Ausfall
Und das kann offenbar dauern: Weil ein Ersatzteil für die Reparatur nicht geliefert werden konnte, war ein Aufzug am Bahnhof Dammtor vor zwei Jahren ganze acht Monate außer Betrieb. Aktuell ist ein Aufzug zur S-Bahn Barmbek bereits seit 15 Monaten ausgefallen.
„Dass man online checken soll, welche Fahrstühle überhaupt funktionieren, bevor man die Bahn nehmen kann: Das ist schon dreist“, sagt Arnold Schnittger, dessen Sohn Nico im Rollstuhl sitzt. Ihn ärgere auch, dass zentrale Haltestellen wie Landungsbrücken oder Sternschanze immer noch keine barrierefreien Zugänge haben, während im Hamburger Norden ausgebaut werde.
Die Hochbahn verweist auf bauliche Vorgaben: Beide Bahnhöfe seien in einer Kurve gelegen, das Anheben der Bahnsteige entsprechend schwierig, außerdem stünden die Haltestellen unter Denkmalschutz. Und um ständige Streckensperrungen zu vermeiden, würden gerade eben Baumaßnahmen auf einer Strecke „in einem Rutsch“ erledigt, so Sprecher Kreienbaum.
Dass es ganz praktische Gründe gibt, die eine Umstellung auf Barrierefreiheit erschweren, das weiß auch Claas Dewoss. „Nichts passiert von heute auf morgen, das betrifft auch die Sensibilität der Bahn- und Busfahrer. Leider sind nicht alle immer hilfsbereit, helfen beim Einstieg und bleiben dabei geduldig.“ Auch Ignoranz könne eine Barriere sein.Annika Lasarzik
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