„Das Bürgeramt ist das Sibirien der Berliner Verwaltung“

Behörden Die zweistufige Verwaltung von Senat und Bezirken ist für Berlin vernünf­tig, sagt Verwaltungs­wissenschaftler Christoph Reichard. Nach Jahren des Sparens müsse aber auf gut funktionierende Verfahrensabläufe gesetzt werden

Christoph Reichard

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Jahrgang 1941, ist emeritierter Professor der Universität Potsdam, wo er BWL mit dem Schwerpunkt öffentliche Verwaltung lehrte.

taz: Herr Reichard, die Berliner Verwaltung ist zweistufig und besteht aus Senat und Bezirken. Diese schieben sich gern gegenseitig die Schuld zu, wenn mal wieder etwas nicht läuft in der Stadt. Das ist offenbar praktisch – aber welche Vorteile hat dieses System noch?

Christoph Reichard: Ich denke schon, dass die Zweistufigkeit für eine große Metropole wie Berlin eine vernünftige Lösung darstellt. Jeder der Bezirke ist für sich eine Stadt von der Größe Essens oder Dortmunds. Die können Sie nicht aus einer zentralen Stadtverwaltung steuern. Das ist nur in Ausnahmefällen geboten – im Baubereich etwa im Zusammenhang mit dem Regierungsumzug. Hinzu kommt, das Berlin erst in den 1920er Jahren zur Großstadt wurde. Vorher gab es ein Konglomerat an selbstständigen Städten. Ohne die unteren Verwaltungsebenen hätte man die sich sehr wichtig nehmenden Teilstädte gar nicht unter ein Dach bekommen.

Die Zweistufigkeit soll also ­sicherstellen, dass Aufgaben und Probleme direkt vor Ort bearbeitet und gelöst werden. Genau das klappt in Berlin aber nicht, wie zum Beispiel die Wartezeiten bei den Bürger­ämtern belegen. Die Bezirke ­sehen die Schuld dafür beim Senat, der ihnen nicht genug ­Personal bezahle. Haben sie recht?

Dass die Berliner Verwaltung nicht allzu gut funktioniert, ist einer ganz üblen Mischung aus einem alten Schlendrian aus Vormauerzeiten, als sowohl West- als auch Ostberlin alimentiert wurden, und übertriebener Sparpolitik geschuldet. Beispiel Bürgerämter: Die haben vergreistes Personal, hohe Krankenstände, zum Teil veraltete Software. Da müssen gut funktionierende Verfahrensabläufe, IT-Lösungen und Führung hinein. Das hat aber alles nichts mit der Zweistufigkeit zu tun, und ein Bürgeramt könnte man auch gar nicht zentralisieren. Zudem sollte man bloß nicht glauben, dass die Senatsverwaltungen sehr viel besser arbeiteten.

Sie sagen, Dezentralisierung ist wichtig. Aber die Macht der Bezirke ist begrenzt. Ihr Haushaltsgeld bekommen sie zugeteilt wie Kinder ihr Taschengeld. Größere Investitionen können sie nur mithilfe der Landesebene stemmen. Wie passt das zusammen?

Das Geld verteilt der Senat nicht nach Gutsherrenart, sondern nach dem Budgetierungsverfahren. Dafür wurden Hunderte Aufgaben der Bezirke definiert – von Kita-Plätzen bis zur Parkpflege. Jeder Bezirk bekommt für die erfüllte Aufgabe einen Mittelwert aller Kosten der Bezirke erstattet. Wer gut gewirtschaftet hat, bekommt mehr, als er eigentlich braucht, und wer schlecht gewirtschaftet hat, bekommt weniger. Das setzt Effizienz-Anreize. Es besteht aber auch die Gefahr, dass die Qualität verringert wird. Da fehlen nach meinem Dafürhalten Kontrollen der Qualität. Zudem nimmt das System keine Rücksicht auf Problembezirke und die besonderen Anforderungen, die daraus entstehen.

Genau diese Mängel führen zu Problemen, etwa bei Schulen, die nicht so rasch gebaut und saniert werden können, wie der Bedarf an Schulplätzen steigt. Auch hier zeigen Senat und Bezirke mit dem Finger aufeinander.

Überall in Deutschland sind die Gemeinden für Schulgebäude und deren Ausstattung, die Landesebene für Personal und Lehrpläne zuständig. In Berlin ist das analog, mit der Besonderheit, dass bei Baumaßnahmen der Senat mit besonderen Sanierungsprogrammen in den Aufgabenbereich der Bezirke hin­einwirkt. Aus dieser Konstellation ergeben sich überall Kompetenzkonflikte. In Berlin beobachten wir aber ein horrendes Versagen der Berliner Verwaltung als solcher. Die absurde Sparpolitik hat dazu geführt, dass überhaupt nicht in die Zukunft geguckt und beispielsweise bei der Schulsanierung alles so laufen gelassen wurde. Das war Schlendrian und Verantwortungslosigkeit.

Und was sagen wir jetzt den Schülern? Pech gehabt?

In diesem Fall könnte es tatsächlich helfen, Verantwortlichkeiten zu bündeln. In vielen anderen Bereichen muss man aber sagen: Die Probleme liegen nicht an der Zweistufigkeit und würden eher stärker werden, wenn man das zentralisierte.

Wie kann man diese Probleme dann lösen?

In erster Linie muss die Berliner Verwaltung auf Vordermann gebracht werden. Die ist über Jahrzehnte ausgehungert, demotiviert und durch seltsame bürokratische Regelungen gegängelt worden. Auch die Ausbildung des Verwaltungsnachwuchses liegt im Argen. Da finden sich teilweise nur zweitklassige Bewerber, weil die Bezirke keine attraktiven Arbeitgeber sind. Die Bezahlung ist nicht gerade umwerfend, und wer geht schon freiwillig ins Bürgeramt? Das ist das Sibirien der Berliner Verwaltung. Außerdem müssen die Verfahrensabläufe in den Ämtern optimiert werden. Da gibt es einen Riesenberg an Aufgaben, auf beiden Ebenen.

Sehen Sie Möglichkeiten, die Reibungsverluste der Zweistufigkeit zu minimieren?

Vielleicht können durch Gremien, in denen sich beide Seiten auf Augenhöhe begegnen, die Schwierigkeiten begrenzt werden. Aber das System enthält Sollbruchstellen, die man kaum vermeiden kann.

Gibt es Vorbilder?

Es gibt eine Vielzahl deutscher Großstädte, die gut funktionieren – Stuttgart, München, Düsseldorf, Hannover. Die haben keine mit Berlin vergleichbare zweistufige Verwaltung, aber die ist aus meiner Sicht ja auch nicht das Problem. Ich habe immer den Eindruck gehabt, dass Berlin als Stadtstaat sich aus Kontakten zu anderen Großstädten ein bisschen heraushält. Dabei ist eine vernünftige Organisation erst mal unabhängig davon, ob die Stadt zusätzlich den Charakter eines Bundeslandes hat. Ich denke, da kann man viel lernen.

INTERVIEWJuliane Wiedemeyer