piwik no script img

Stundenlang keine Orte, keine Menschen

Radreise Ein Bücherhotel, eine Töpferpension und Schliemanns Troja sind die Highlights einer Radtour durch Mecklenburg-Vorpommern. Außer der Einsamkeit, den Seen und den Fischadlern

Von Reimar Paul

Bücher, überall Bücher. Im Gutshotel Groß Breesen, dem selbst ernannten „1. Bücherhotel Deutschlands“, dreht sich fast alles um Bücher. Sie stehen auf Regalen in den Zimmern und Fluren. Sie liegen in hohen Stapeln auf Treppenaufgängen, auf Tischen und Stühlen, in den Ecken des Frühstücksraums und auch in den Toiletten. In der 50 Meter vom Hotel entfernten Bücherscheune stapeln sich die Bände bis an die Decke. Kartons und Obstkisten voller Literatur, weder archiviert noch katalogisiert: Romane von Stefan Zweig und Thomas Mann, von Eduardo Galeano und Tolstoi, Biografien von Rosa Luxemburg und Brecht, Fach- und Sachbücher, Reiseführer und Atlanten.

„Insgesamt haben wir auf dem Gelände derzeit wohl rund 500.000 Bücher“, sagt Maxi, die Tochter der Hotelgründerin und Inhaberin Conny Brock. Sie hat in den Wirren von Wende und Wiedervereinigung die ersten Bücher in aufgegebenen Verlagen und Bibliotheken eingesammelt. „Damals galt ja fast alles, was in der DDR produziert wurde, als wertlos.“ Gebrauchte wie ungelesene Bücher seien „palettenweise“ auf den Müll gewandert.

Inzwischen müssen Conny Brock und ihr Team nicht mehr selbst durch die Lande fahren, um Bücher abzuholen. „Viele, die Literatur abzugeben haben, bringen sie statt ins Antiquariat hier vorbei“, erzählt Maxi. Die Vermehrung erfolgt auch durch einen Büchertausch im Verhältnis 2:1. Jeder Gast oder Besucher, der zwei Bücher da lässt, darf eines mit nach Hause nehmen. Ganz genau wird diese Regelung aber nicht genommen.

Bücher und Schafe

Das „Bücherhotel“, das inmitten Mecklenburg-Vorpommerns direkt am Radfernweg Berlin–Kopenhagen liegt, lohnt aber nicht nur wegen des überall ausliegenden Lesestoffs für einen längeren Halt. Der große Garten, in dem ebenfalls mehrere Leseecken angelegt sind, geht in eine abschüssige Wiese über, auf der Schafe weiden. Ihr gelegentliches Blöken ist weit und breit das lauteste Geräusch, Verkehrs- oder Indus­trielärm gibt es hier nicht.

Die Zimmer sind groß und hell, das auf regionalen und saisonalen Produkten basierende Essen ist vorzüglich, die Preise sind moderat. Mehrere Seen mit guten Badestellen sind mit dem Fahrrad in zehn bis 15 Minuten zu erreichen.

Zehn Tage zuvor sind wir in Lüneburg gestartet. Das erste Teilstück des Mecklenburgischen Seen-Radwegs führt durch die nördliche Lüneburger Heide zum Elbe-Seiten-Kanal und zum imposanten Schiffshebewerk Scharnebeck – die weltweit zu den größten ihrer Art zählende Anlage kann Frachtschiffe bis zu 38 Meter hoch heben, damit sie die Höhenschwelle zwischen Elbmarsch und Geest überwinden können.

In Bleckede setzen wir mit der Fähre über die Elbe. An den Altarmen des Flusses lauern Grau- und Silberreiher auf Beute, Störche stolzieren über die weitläufigen Au-Wiesen, in der Luft kreisen Rotmilane, Bussarde und Sperber. Nur durch das Fernglas zu identifizieren ist der Seeadler, der am anderen Ufer auf einem toten Baum hockt.

Die Dörfer am Radweg heißen Dellien, Haar, Kaarßen, Neuhaus, Stapel, Sückau, Sumte und Tripkau. Zusammen bilden sie das Amt Neuhaus. Ein Kuriosum: Bis 1949 waren sie niedersächsisch, nach der deutschen Teilung gehörten sie noch bis 1993 zum mecklenburgischen Landkreis Hagenow, dann beschlossen die Gemeinderäte einstimmig, wieder nach Niedersachsen zu wechseln.

Die Enklave in der Enklave

Inmitten des Amtes Neuhaus liegt, sozusagen als Enklave in einer Enklave, am Nordufer der Elbe auf Mecklenburger Gebiet die „Dorfrepublik Rüterberg“. Sie wurde am 8. November 1989 von den verbliebenen 150 Einwohnern ausgerufen, als nachträglicher Protest gegen die Isolierung des Ortes in der DDR. Als Gemeinde am Grenzfluss war Rüterberg 22 Jahre lang von allen Seiten von Sperranlagen umgeben, zur Bundesrepublik hin war das Dorf durch ein Zaunsystem entlang der Elbe getrennt. Nur Sonderpassierscheine erlaubten den Ein- und Ausgang oder eventuellen Besuch für die Bewohner. Ein Stückchen Grenzzaun, ein Mahnmal und einige Infotafeln sollen Reisende an die vier Jahrzehnte währende Isolation erinnern.

In Dömitz – in der noch erhaltenen Festung der Stadt wurde der niederdeutsche Schriftsteller Fritz Reuter Mitte des 19. Jahrhunderts unter anderem wegen Majestätsbeleidigung gefangen gehalten – knickt der Radweg nach Osten ab, von nun an sind wir richtig in Mecklenburg. Zunächst oft – zu oft – auf oder neben Straßen verlaufend, führt der Weg durch scheinbar endlose Getreide- und Rapsfelder nach Ludwiglust. Das dortige prunkvolle Schloss ließ einst der Herzog von Mecklenburg-Schwerin errichten, der geometrisch angelegten Garten erinnert an die Grünflächen von Versailles.

Über Parchim, Plau am See und Röbel erreichen wir nach fünf eher geruhsamen Radeltagen den Müritz-Nationalpark. Die Landschaft ist immer schöner geworden, je weiter wir nach Osten gekommen sind. Kopfsteingepflasterte Dorfstraßen wechseln sich mit Sand- und Waldwegen oder schmalen asphaltierten Trassen ab. Zwischen Birken und Kiefern blitzt das Wasser der Seen auf.

An einem, dem Granziner See, betreibt Doris Steuer ihren „Töpferhof“. Das Ensemble aus zwei alten Bauernhäusern und Scheune beherbergt neben einer Töpferwerkstatt mehrere kleine Ferienwohnungen, ein Café und einen Verkaufsstand für Kunsthandwerk. Punkten kann das Anwesen aber vor allem mit seinem Grundstück. Die Obstbaumwiese hinterm Haus reicht bis ans Wasser, mittendrin gibt es eine Feuerstelle, im kunstvoll angelegten Garten im Hof blüht und duftet es intensiv.

Troja in Meck-Pomm

Durch seine Lage drängt sich der Hof als Standort für Tagestouren durch den Nationalpark geradezu auf. Auf kaum befahrenen Sträßchen radeln wir ohne Gepäck durch eine zauberhafte, Wildnis-ähnliche Natur – Moore, Wälder und Wasser, immer wieder Wasser. Nicht minder spektakuläre Blicke bieten sich vom Kanu aus, Bootsverleihe gibt es alle paar Kilometer. Die im Norden des Schutzgebietes aus dem Boden quellende Havel ist in ihrem Oberlauf häufig so flach, dass das Kanu gezogen oder geschoben werden muss.

Infos für unterwegs

Karten:

Bikeline Radtourenbuch „Mecklenburgischer Seen-Radweg“, Verlag Esterbauer, 12,90 Euro; Bikeline Radtourenbuch „Radfernweg Berlin–Kopenhagen“, Verlag Esterbauer, 13,90 Euro; Handbuch Elberadweg, kostenlos in allen Tourismusinformationen der Region und auf www.elberadweg.de

Fähren:

www.bleckede.de; Rostock–Gedser (Dänemark): www.scandlines.de

Unterkünfte:

www.buecherhotel.de; www.toepferhof-steuer.de

Sonstiges:

www.schliemann-museum.de; www.darss.org

Das riesige Pferd aus Holz an der Straße ist der Blickfang für das Heinrich-Schliemann-Museum im Dörfchen Ankershagen. Hier, im früheren Pfarrhaus, ist der spätere Archäologe und vermeintliche Troja-Entdecker aufgewachsen. Die Dauerausstellung widmet sich der Kindheit und Jugend Schliemanns, seiner Tätigkeit als Kaufmann im zaristischen Russland und seinen Grabungen in Griechenland und der Türkei. Mehrere Originalfunde werden präsentiert, aber auch Nachbildungen edelmetallener Ausgrabungsstücke.

In der touristisch ziemlich aufgepäppelten Müritz-Metropole Waren wechseln wir auf den Radweg Berlin–Kopenhagen. Die Route führt zunächst fast 30 Kilometer durch den Naturpark Schwinzer/Nossentiner Heide: Fast 40.000 Hektar weites flaches Land, ausgedehnte Kiefernforste und an die 60 Seen. Über Stunden passieren wir keine einzige Ortschaft.

Ernst Barlach überall

Nächster Stopp ist Güstrow mit dem Renaissance-Schloss aus dem 16. Jahrhundert und einer fast geschlossen erhaltenen Altstadt. Güstrow verfügt gleich über drei Museen, die an das Leben und Werk des Expressionisten Ernst Barlach erinnern. Die Gertrudenkapelle beherbergt vor allem Holzskulpturen, in seinem ehemaligen Atelier sind Plastiken und Werkmodelle ausgestellt, das benachbarte Ausstellungsforum beinhaltet ein Grafikkabinett mit Zeichnungen, Drucken und Handschriften.

Wer bis Kopenhagen weiter will, muss in Rostock aufs Schiff umsteigen. Wir entscheiden uns für einen Abschluss auf dem Darß, dem mittleren Teil der Ostsee-Halbinsel, zu der außerdem noch Fischland und Zingst gehören. Wir fahren tagsüber an den zehn Kilometer langen, wilden Weststrand. Gucken aufs Meer. Blättern und lesen in den Bänden, die wir aus dem „Bücherhotel“ mitgenommen haben. Ohne selbst welche da zu lassen.

Abends radeln wir zum kleinen Hafen von Born. Der Blick von hier aus auf den Saaler Bodden ist eine Wucht. Ein Segelboot hat Kurs auf den Anleger genommen, Feriengäste genießen die Abendsonne auf Bänken am Wasser, an der Fischbrötchen-Bude ist noch Betrieb. Weit weg, am anderen Ufer, ist das rote Dach der Kirche von Saal zu sehen.

Über dem Bodden kreist ein Fischadler.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen