: Brotsuppe und Schlüpfer
Die Händler nahe der Grenze zur Ukraine interessieren sich wenig für politische Entscheidungen und doch hängt ihre Existenz von ihnen ab. Baba Galja ist eine von ihnen und hat einen eigenen Blick auf die Entscheidungen von Putin, Obama und Poroschenko
AUS BELGOROD Oleg Schewzow
„Ich bin ein kleiner Mensch“ – das wiederholt Baba Galja gern. Aus zwei Gründen. Zum einen ist sie wirklich klein. „Ich bin wie ein Hocker – klein, aber solide!“, scherzt sie dann. Zum anderen gehört sie zu den „kleinen Leuten“ – jenen, die nicht zur Wahl gehen und sich nicht für Politik interessieren. Die Schule hat Baba Galja nach acht Klassen verlassen, erzählt sie. Ihr Gesicht ist wettergegerbt. Ihr Kosmos ist der Basar von Belgorod, einer russischen Stadt mit 350.000 Einwohnern, die gerade 40 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt liegt.
Tagein, tagaus steht Baba Galja in einem bunten, gemusterten Rock hinter ihrem Tisch, die Hemden und Schlüpfer fest im Blick. Mit einem Auge aber beobachtet sie das Markttreiben – die feilschende Kundschaft und die buhlenden Händler, die wie sie ihren Lebensunterhalt hier mit dem Verkauf von oft illegalen Waren finanzieren.
„Hallo, du Schöne!“, kräht sie plötzlich einer jungen Frau zu, die durch die Reihen schlendert. „Schau doch mal, Unterwäsche aus Weißrussland! Schau mal, was ich für schöne BHs habe! Komm nur her und genier dich nicht!“ Doch die Schöne würdigt sie nicht eines Blickes. Das aber kann Baba Galja gar nicht leiden. „Bleib stehen! Ich rede mit dir!“, ruft sie ihr wie eine Polizistin hinterher.
In Wahrheit ist die „weißrussische Unterwäsche“ natürlich billiges Zeug aus China. Und Baba Galja heißt in Wahrheit Anna Jurjewna, so steht es in ihrem Pass. Doch hier auf dem Basar ist sie seit nunmehr 25 Jahren „Baba Galja“. Wollte man das russische Baba übersetzen, man würde irgendwo zwischen Mütterchen und Weibsbild landen. Bleiben wir bei Baba.
„Je weniger du weißt, desto besser schläfst du“, erklärt sie ihre Philosophie und löffelt dabei Brotsuppe. Sie hat mich ins „Minutka“, auf Deutsch: „Minute“, gelockt, den Imbiss, wo alle Händler verschnaufen und sich mit Mahlzeit versorgen. Der Laden hat sich seit Jahrzehnten nicht mehr verändert. Einfache Besucher kommen hier nicht so ohne Weiteres rein. Doch gleich nebenan steht ein „Kentucky Fried Chicken“ weit offen. Der Service ist natürlich viel besser, die Preise dafür höher.
Baba Galjas Schicksal ist typisch für ihre Generation. 1991, nach dem Zerfall der Sowjetunion, stand sie plötzlich ohne Arbeit da und ohne Zukunft. Dann kam auch noch die Scheidung von ihrem Mann, weil er soff. Sicher, gesoffen haben russische Männer immer, aber damals war das anders, heftiger, erinnert sich Galja. Die Männer fielen komplett aus. „Ich selbst musste ein Mann werden, um zu überleben“, sagt sie und richtet sich auf. Und wirklich: So, wie sie jetzt dasteht, könnte man sie für einen Mann halten: kräftig, untersetzt, mit mächtigen Armen und einer Raucherstimme, wie sie eigentlich nur Männern eigen ist.
Baba Galja fand damals Arbeit auf dem Basar. Das war ihre Universität, hier lernte sie zu überleben: zu schmieren und Schmiergeld anzunehmen, mit den Konkurrenten zu kämpfen, die Kunden übers Ohr zu hauen. Kurzum, sie lernte, allen Widrigkeiten zu trotzen. In den neunziger Jahren waren das vor allem Schutzgelderpresser. In den Nullerjahren waren es staatliche Kontrolleure.
Sie wurde ein Schiffchen
Für die meisten Russen waren die neunziger Jahre Hungerjahre, für Baba Galja waren es goldene Zeiten. In der Sowjetzeit waren Leute wie Galja als Spekulanten verrufen. Dann aber waren sie plötzlich Unternehmer. Aus Baba Galja wurde ein „Schiffchen“. So hießen in Russland die Händler, die Waren aus dem Ausland einführten, meist illegal. Galja fuhr mit dem Regionalzug in die Millionenstadt Charkow, die nun plötzlich im ukrainischen Ausland lag. Dort, auf einem der größten Märkte Osteuropas, boten zwielichtige Händler aus Vietnam, Afrika und Afghanistan ihre ebenso zwielichtigen Waren an.
Charkow hatte es in den neunziger Jahren besonders böse getroffen. Massenentlassungen in den Maschinenbaukombinaten und Rüstungsfabriken führten dazu, dass ein Heer von Ingenieuren und Arbeitern auf der Straße stand. Die meisten wurden Händler. Schnell war ein Großmarkt entstanden, auf dem man sich leicht verlaufen konnte, erzählt Galja. Als „Schiffchen“ segelte sie über die Grenze, hin und her. Ihre Augen leuchten geradezu nostalgisch.
Viele Jahre ist Galja einmal die Woche nach Charkow gefahren und hat sich in den Großmarkt gestürzt. Zurück kam sie mit prall gefüllten Taschen und verhökerte die Socken aus China und der Türkei zum dreifachen Preis. Hat sie die Sachen eigentlich verzollt? Diese Frage versteht Galja nicht. „Junge, wir sind doch Sowjetmenschen! Wir kommen immer irgendwie durch!“ Oft hat sie die Taschen einfach unter die Sitze fremder Leute gezwängt, erzählt sie. „Und was ist, wenn jemand kommt?“, haben die entgeistert gefragt. „Ihr sagt, das ist für den persönlichen Gebrauch!“ Manchmal habe sie die Etiketten entfernt. Dann konnte man den Zöllnern noch leichter den Bären aufbinden. Die hundert Paar Socken? Die sind für die Familie, als Vorrat! Und dann gibt sie doch zu, dass sie manchmal aus dem fahrenden Zug gesprungen ist, um den Zöllnern zu entgehen.
„Mein Gott, das waren Zeiten!“, aalt sie sich kurz in der Erinnerung. „Jetzt ist alles futsch!“, faucht sie dann. Als es anfing, bemerkte sie, dass die Leute plötzlich mehr Geld hatten und in richtigen Geschäften einkauften. „Und dann hat Putin auch noch angefangen, mit den Amerikanern zu verhandeln.“ Was ist denn daran so schlimm, Galja? „Russland wurde 2012 Mitglied der WTO, der Welthandelsorganisation!“ Sie schaut mich an, als ob ich begriffsstutzig wäre.
„Verstehst du nicht, was das für mich bedeutet?“ Galja ist ungehalten. „Markenklamotten wurden plötzlich billiger, die Leute ließen den Basar links liegen und stürmten die Läden. So ist das!“ Baba Galja, die Herrin vom Basar, war nicht mehr konkurrenzfähig. Ihr Umsatz ging gegen null. Die Fahrten in die Ukraine stellte sie ein. Die Brotsuppe ist aufgegessen. Baba Galja holt noch einen Tee.
Irgendwann flackerte wieder Hoffnung auf, berichtet sie. Plötzlich füllte sich der Basar aufs Neue. Warum? Der Rubel stürzte ab. Und Mütterchen Galja reiste wieder nach Charkow, um sich mit Schlüpfern und Unterhemden einzudecken, auf ihnen glänzten merkwürdige „Markennamen“ wie „Adibas“ und „Naik“ statt „Adidas“ und „Nike“. Aber wen kümmerte das schon?
Dann aber machte ihr der Krieg in der Ukraine einen Strich durch die Rechnung. „Weil sie alle zu ihrem Euromaidan gerannt sind!“ Und dann flucht die Händlerin aus ganzem Herzen: „Hach, ich möchte sie alle erwürgen!“ Es ging rasant bergab. Moskau und Kiew liegen im Clinch. Der Zugverkehr zwischen Belgorod und Charkow wurde eingeschränkt, die Vorortzüge rollen nicht mehr. Und mit dem Reisezug zu fahren, lohnt sich nicht, klagt Galja. „Die Preise sind so hoch, das lohnt nicht.“ Und zu allem Überfluss forderten die Ukrainer plötzlich auch noch Reisepässe. Bisher genügte ein Ausweis.
„Was soll man machen?“ Um ihr Geschäft zu retten, hat sie einen Reisepass beantragt und fuhr fortan mit dem Bus in die Ukraine. Aber nicht allzu lange. „Schau dir das mal an!“ Sie zückt aus einer der Taschen ihren Reisepass und deutet auf einen Stempel: Einreiseverbot. „Den haben mir die ukrainischen Grenzer reingehauen, weil ich ihnen kein Schmiergeld zugesteckt habe.“
Die Kämpfe ruinieren sie
„Ich will nach Charkow, um für meinen Enkel Sachen zu kaufen“, hatte sie geflunkert. „Und dann haben mich die Grenzer angeranzt.“ Baba Galja kann es bis heute nicht fassen. „Vielleicht bist du eine Terroristin und fährst in den Donbass, um zu kämpfen?“ Baba Galja schaut an sich herab. „Ich, eine Terroristin? Ich sag’s ehrlich, ich hab’s nicht ausgehalten und sie beschimpft. Die haben mich zur Strafe in ein Kabuff gesteckt, fotografiert und diesen Stempel reingehauen. „Ich werde dieses Land nie mehr betreten, habe ich denen gesteckt.“
Mit den Kämpfen in der Ostukraine ist der kleine Grenzverkehr fast zum Erliegen gekommen. Pingelig kontrollieren die Ukrainer seitdem, bestehen auf notariell beglaubigte Einladungen, kontrollieren Bargeld, ob es für einen Reise reicht, wollen das Rückfahrticket sehen oder sonst irgendwas. In der Regel heißt das, dass sie schließlich die Hand aufhalten. Der „Eintritt“ liegt derzeit bei umgerechnet 7 Euro pro Person.
Die Händler von Belgorod, erzählt Galja, orientieren sich nun Richtung Moskau. Aber der Weg ist weiter und die Preise sind auch deutlich höher. Und im vorigen Herbst sind sie noch einmal durch die Decke gegangen, als die Türkei einen russischen Kampfjet abschoss. Offiziell verboten wurden türkische Textilien zwar nicht, aber die Kontrolleure achteten plötzlich sehr genau auf Einfuhrdokumente. „Fast hätten sie die Zettel noch unters Mikroskop gelegt“, schimpft Galja. Alles, was aus der Türkei kam, Schlüpfer, Socken, Jeans, wurde knapp. Und die Klamotten aus China wurden teurer.
„Ich habe dir jetzt alles erzählt“, brüllt sie mir ins Ohr. „Die Amis haben sich die WTO ausgedacht, um uns zu ruinieren! Die Ukraine hat uns die Grenze vor der Nase dicht gemacht und die Türkei hat eines unserer Flugzeuge abgeschossen. Und wir? Was sollen wir machen? Schreib deinen Deutschen, dass die ganze Welt gegen mich ist! Alle sind Feinde! Alle gegen einen! Schreib auf: Ihr sollt zusammen mit eurer Merkel, mit Obama, diesem Erdoğan, dem Poroschenko und mit Putin die Sachen klären. Sie sollen sich alle mit Politik beschäftigen und uns kleine Leute endlich in Ruhe lassen. Schreib’s auf!“
Baba Galja, ich hab’s gemacht.
Nachtrag: Als ich nach ein paar Tagen zu ihr zurückkehrte, um ein Foto zu machen, war sie außer sich. „Was? Du hast wirklich alles aufgeschrieben? Ohne mich um Erlaubnis zu bitten?“ Ein Foto hat sie abgelehnt.
Aus dem Russischen übersetzt von Thomas Gerlach
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