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„Die Wand ist wie ein Puzzle“

Klettern Die Ungarin Melinda Vigh wurde mit nur einer Hand geboren – trotzdem klettert sie Routen mit hohem Schwierigkeitsgrad. Sie genießt es, am Fels ihre ganz eigenen Lösungen zu finden. Gerade trainiert sie für die Paraclimbing-WM im September

Hat durchs Klettern gelernt, auch ihrem linken Arm zu vertrauen: die Paraclimberin Melinda Vigh beim Training in Berlin Foto: privat

aus Berlin Pia Rauschenberger

Von Weitem unterscheiden sich ihre Bewegungen nicht von denen der anderen Menschen an der Kletterwand. Aus den Beinen drückt sie sich nach oben, hängt mal am rechten, mal am linken Arm an den bunten Griffen. Ihre Schultern sind muskulös, ihr brauner Pferdeschwanz wippt hinter ihr her, wenn sie einen dynamischen Zug nach oben macht. Vor einer schweren Stelle schüttelt sie nacheinander ihre Arme aus.

Melinda Vigh, 34, ist leidenschaftliche Klettererin. Eins aber unterscheidet sie von anderen Kletterern: Sie hat nur eine Hand. Kurz unter ihrem Ellenbogen wird ihr linker Arm zu einem Stumpf mit drei Knubbeln, die wie sehr kleine Finger aussehen. Und noch einen Unterschied gibt es: Die meisten der anderen Sportler in der Kletterhalle klettern nur hobbymäßig; einige bereiten sich auch auf nationale Wettbewerbe vor. Melinda Vigh aber trainiert für die Paraclimbing World Championships in Paris im September, die Weltmeisterschaften im Klettern mit Behinderung. Am vergangenen Wochenende hat sie bei einem internationalen Paraclimbing-Turnier in Österreich den ersten Platz gemacht.

„Jeder Kletterer ist anders. Manche sind groß, manche sind klein, und ich habe eben diesen linken Arm“, sagt Vigh achselzuckend. „Klettern erfordert individuelle Lösungen.“ Und die findet sie. Vigh hat ihren linken Arm mit Tape umwickelt, damit die Haut nicht leidet, wenn sie ihn immer wieder auf Griffe über ihrem Kopf legt und sich daran hochzieht. Manchmal stützt sie ihren linken Arm auch wie ein Knie gegen die Wand und drückt sich daran hoch. Er ist Teil ihres kraftvollen, ruhigen Kletterstils geworden.

Die junge Frau kommt aus Ungarn, lebt aber in Berlin. Seit ihrer Geburt hat sie diesen Arm, der ohne Tape zart und fragil aussieht. Natürlich sind dadurch manche Dinge komplizierter im Leben. Die Haustür aufmachen zum Beispiel, wobei sie gleichzeitig die Tür anziehen und den Schlüssel drehen muss. Da stehe sie dann oft minutenlang davor. Aber so war es für die Sportlerin eben schon immer. Und ihr linker Arm habe auch Vorteile: „Wenn ich ein Marmeladenglas sauber machen will, ist er zum Beispiel sehr hilfreich. Ich kann einfach meinen Arm reinstecken. Eine Hand würde da nicht reinpassen.“

Melinda Vigh lacht viel. Besonders, wenn sie vom Klettern spricht. Dann wirkt sie manchmal fast kindlich aufgeregt: „Ich finde Klettern ist wie ein Puzzle. Man muss die richtigen Lösungen finden. Und man muss oft kreativ sein.“ Seit sie klettert, hat die Sportlerin viel mehr Selbstbewusstsein gewonnen. Dass ihr das mal gefehlt haben könnte, kann man sich nur vage vorstellen. Sie ist eine, die deutlich sagt, was sie will. „Es gibt so viel positives Feedback von den Menschen, die mich klettern sehen. Ich genieße diese Aufmerksamkeit.“

Das sei auch ein Grund, warum sie bei den Weltmeisterschaften antreten wolle, gibt sie grinsend zu. Und sie möchte andere behinderte Menschen inspirieren. „Wenn ich nicht angefangen hätte zu klettern, hätte ich nie so viele Muskeln in meinem Arm aufbauen können“, sagt sie. „Und ich hätte nie gemerkt, wie viel ich damit eigentlich machen kann.“ Das sollen auch anderen Menschen mit Behinderung erfahren, findet sie.

„Klettern hilft mir dabei, die Perspektive zu wechseln“

Melinda Vigh

Für die 34-Jährige bedeutet Klettern, dass sie ihren linken Arm benutzen muss: „Am Anfang habe ich noch nicht so sehr auf ihn vertraut. Inzwischen hänge ich mein ganzes Gewicht an ihn. Dadurch bin ich insgesamt viel weniger einseitig geworden.“ Wenn sie spricht, verschränkt sie oft ihre Arme. Dann taucht ihr linker Arm unter ihrem rechten Arm ab. „Manche meiner Freunde finden, ich verstecke meinen linken Arm“, sagt sie. „Aber ich mache das schon viel weniger als früher.“

Melinda Vigh schreibt gerade an ihrer Doktorarbeit in Volkswirtschaftslehre. Wenn es damit nicht gut läuft, fährt sie in die Kletterhalle. Sie trainiert viermal pro Woche. „Klettern hilft mir, die Perspektive zu wechseln. Weil man das für schwere Routen braucht“, erklärt sie. „Das kann ich auch auf das Leben außerhalb der Kletterhalle übertragen.“ Sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren und nach einem gescheiterten Versuch weitermachen – wichtige Eigenschaften im Sport wie im Leben.

Noch ist Klettern keine Sportart bei den Paralympics, das könnte sich aber bald ändern. So oder so möchte die Ungarin, dass beim Paraclimbing fairer bewertet wird. „Es gibt da eine Frau in den USA, die wirklich nur mit einem Arm klettert“, erzählt sie. „Nach heutigem Stand würden wir in derselben Kategorie bewertet, dabei kann ich meinen Arm so gut nutzen. Das ist doch unfair.“ In Berlin kennt sie keine anderen Menschen mit Behinderung, die regelmäßig klettern gehen. Einen Trainer hat sie auch nicht. Ihren Trainingsplan hat ein guter Freund für sie ausgearbeitet. Er scheint zu funktionieren. Vigh klettert Routen bis zum Schwierigkeitsgrad 8–. Für Amateurkletterer ist das eine Herausforderung. Aber Herausforderungen mag Melinda Vigh.

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