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Totenstille und Kriegslärm zugleich

DIE Nacht Militärs wollen die türkische Regierung stürzen. Doch selbst die Opposition distanziert sich von dem Putsch, während Zivilisten in den Straßen Panzern entgegentreten. Protokoll einer langen Nacht, in der alles möglich schien

Aus Istanbul Fatma Aydemir und Samil Sarikaya

Man kennt es. Aus so vielen türkischen Filmen und Romanen. Aus Erzählungen von Zeitzeugen. Und doch ist es erschreckend befremdlich, wenn es passiert: In der Nacht zum Samstag, kurz nach Mitternacht, verliest die Nachrichtensprecherin des staatlichen TV-Senders TRT mit eiskalter Miene die Erklärung eines „Friedensrats“. Er gibt vor, im Namen des türkischen Militärs zu agieren. Er sei von nun an verantwortlich für den Sender, für die gesamte türkische Republik. Er entmachte eine „autokratische Regierung“, die „die demokratische und laizistische Justiz vollkommen abgeschafft hat“. Bilder, die an ein kollektives Trauma appellieren. Die dunklen Jahre des Militärregimes. Nach 1960, nach 1980. Es scheint offiziell. Ein Putsch. Schon wieder. Oder eher ein Putschversuch? Gar ein fingierter? Es fällt schwer, es zu benennen.

In einem Land, dessen politisches Geschehen nur über Verschwörungstheorien diskutiert wird, kommt man nicht umhin, alles zu hinterfragen. Alles. Wir sitzen zu Hause vor dem Fernseher. Wer zufällig draußen ist, besorgt noch schnell ein paar Lebensmittel oder reizt seinen Dispo am Bankautomaten aus. Die Ausgangssperre wird ausgerufen, ab 6 Uhr darf keiner raus. Allerdings wirken die Straßen jetzt schon wie leergefegt. Alle Cafés und Bars des Studentenviertels Kadıköy haben innerhalb von fünf Minuten dichtgemacht. Nur ein junges Paar tapst durch die Gasse auf der vergeblichen Suche nach einem Taxi.

Schon Stunden vor der militärischen Übernahme des Staatsfernsehens gibt es klare Indizien für einen Ausnahmezustand. Militärhubschrauber fliegen ungewöhnlich niedrig über den Dächern zentraler Wohngegenden. Beide Bosporusbrücken, die Hauptschlagadern des Metropolenverkehrs, werden von Soldaten blockiert. Die ersten Nachrichten kommen aus Deutschland, als SMS von Freunden. „Ist alles okay bei dir?“ Twitter und Facebook sind down, im türkischen Fernsehen rätselt man über Militärpanzer an Verkehrsknotenpunkten, öffentlichen Plätzen und den Flughäfen von Istanbul und Ankara. Das Vokabular wählt man mit größter Vorsicht. Einen Regierungssprecher kann keiner erreichen. In einer knappen Erklärung der AKP heißt es: „Dies ist nur ein Versuch. Und hinter ihm steckt nur eine kleine Randgruppe des Militärs. Sie werden dafür bezahlen.“ Die Nachrichten beten diese Sätze hoch und runter. Bis die TRT-Sprecherin sich räuspert und liest.

Es gibt keine Antwort auf „Für wen bist du?“ Es ist wie Cholera gegen Pest

Wir hören Schüsse. Wir hören Explosionen. Das Zischen von Kampfjets wird lauter und dauert eine gefühlte halbe Stunde an. Das Fenster vibriert. Es ist ein Nebeneinander von Totenstille und Kriegslärm im Herzen der 14-Millionen-Stadt. Heute Nacht ist alles möglich, schießt es vielen durch den Kopf. Aber es ist kein hoffnungsvoller Moment. „Für wen bist du?“, fragen Freunde auf WhatsApp. Darauf gibt es keine Antwort. Es ist wie Cholera gegen Pest.

Die Türkei befindet sich seit gut einem Jahr in einer tiefen politischen und gesellschaftlichen Krise. Es herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände in den kurdischen Gebieten. Die islamistischen Anschläge, zuletzt am Flughafen Istanbul Atatürk, häufen sich. Die Putsch-Erklärung des „Friedensrats“ bezieht sich auf all das. Und auch auf die Missachtung der Menschenrechte. Auf die Fehler der AKP-Regierung in wirtschaftlichen und außenpolitischen Fragen. Die Anschlagsopfer. Die ungeahndeten Korruptionsfälle. Im Prinzip sind alle Kritikpunkte, die Oppositionelle Tag für Tag verzweifelt zur Sprache bringen, aufgelistet. Allein: Die Oppositionsparteien distanzieren sich in der Nacht zu Samstag von den Putschisten. Eine Presseerklärung nach der anderen trifft ein. Von den rechten Nationalisten bis hin zu den Kemalisten und den kurdischen Linken: Kein Lager erkennt die Militärregierung an. Auch TÜSİAD, die mächtigste Vereinigung türkischer Indus­trieller, distanziert sich. Alle sind sich einig: Es müsse eine demokratische Lösung geben. Auch wenn der Gegner Antidemokrat ist.

Die große Frage des Abends lautet: Wo steckt Erdoğan? Es hagelt Verschwörungen ohne Ende: Er sei auf dem Weg zum Flughafen, meldet NBC News, und habe Asyl in Deutschland beantragt. Es gibt viel Raum für Spekulationen. Der ansonsten so gar nicht kamerascheue Präsident lässt sich nach den ersten Meldungen fast zweieinhalb Stunden Zeit, bis er spricht. Aber als er es dann endlich tut, verändert sich alles.

Kurz nach halb eins hält eine CNN-Türk-Moderatorin ihr iPhone in die Kamera. Der türkische Präsident spricht über Facetime aus dem Urlaubsort Marmaris. Die Putschisten seien eine vom islamischen Prediger und Erdoğan-Gegner Fetullah Gülen angestachelte Randgruppe, erklärt er. „Ich fordere alle Bürger dazu auf, auf die Straßen zu gehen und unsere Demokratie zu verteidigen.“ Widerstand gegen das Militär? Der Schock sitzt tief. Vor allem aber schockiert, dass Erdoğan, der seit den Gezi-Aufständen ausnahmslos jeden Demons­tranten zum Terroristen erklärt, ganz plötzlich die Straße als Ort der Demokratie deklariert.

Nur wenige Minuten später: Live-Bilder aus Ankara von jungen Männern, die auf Panzer steigen. Sie wedeln mit türkischen Fahnen, recken ihre Hände in die Luft, um das Symbol der Grauen Wölfe zu zeigen. Der Generalstabschef distanziert sich von den Putschisten. Von allen Moscheen werden Durchsagen gemacht. In manchen Orten auf kurdisch. „Geht auf die Straße, in Gottes Namen.“ Und es passiert. Nicht vor unserer Tür, nicht in Kadıköy, aber im Fernsehen. Irgendwo in Ankara. Irgendwo in Istanbul.

Angesichts der mächtigen Kommunikationswege über den religiösen Apparat scheint die Übernahme von TRT im Rückblick fast lächerlich. Zivilisten marschieren in den noch vor wenigen Minuten vom Militär besetzten Flughafen ein und rufen „Allahu akbar“ – „Gott ist groß“. Von da an geht alles ganz schnell. Wenig später hören wir Autokorsos. Die ganze Nacht über schallt aus allen Moscheelautsprechern des Landes das Salah-Gebet. Es hält die Bevölkerung wach. Das Parlament in Ankara wird bombardiert. Erdoğan wird indessen am Flughafen Atatürk von einer jubelnden Menge als großer Held gefeiert, der sein Volk vor dem Militärregime bewahrt hat. Als die Sonne aufgeht, hat sich ein Großteil der Putschisten ergeben. Es kursieren Handyvideos, auf denen einige von ihnen öffentlich gefoltert und gelyncht werden. Von Zivilisten, so scheint es. Über 1.500 Festnahmen gibt es bereits am Morgen. In den türkischen Mainstreammedien wird von 161 Toten gesprochen, aber mindestens 100 getötete Putschisten kommen hinzu. Eine lange Nacht in Istanbul geht zu Ende, schlaflos und blutig.

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