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London will nichts überstürzen

Grossbritannien Premierminister Cameron und die EU-Gegner sind sich einig, dass ein sofortiger Austritt des Landes aus der Europäischen Union nicht infrage kommt. Erst muss klar sein, was danach kommt

Eine Statue Winston Churchills vor Big Ben – beide politischen Lager beanspruchen den Nationalhelden für sich Foto: Matt Dunham/ap

von Dominic Johnson

Die Briten haben für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt – aber die britische Regierung leitet jetzt nicht unverzüglich die Austrittsverhandlungen ein. Diese Haltung irritiert viele in der EU. Aber sie ist nicht, wie manche meinen, der Beginn eines „Exit vom Brexit“.

Ein EU-Mitglied, das rauswill, muss gemäß Artikel 50 der EU-Verträge den anderen Mitgliedern seine Absicht mitteilen und hat dann zwei Jahre Zeit. Manche in der EU erwarten, dass diese Frist jetzt sofort anläuft. Aber in einer Rede vor dem britischen Parlament am Montag sagte Premier David Cameron klipp und klar: „Die britische Regierung wird in diesem Stadium Artikel 50 nicht anwenden. Vorher müssen wir festlegen, welche Art von Beziehung mit der EU wir wollen. Und diese Entscheidung obliegt dem nächsten Premierminister und dem nächsten Kabinett . . . Dies ist unsere souveräne Entscheidung.“

Auch das Brexit-Lager hat schon vor dem Referendum immer wieder gesagt, es sei im Falle eines Sieges dagegen, den Austrittsprozess sofort einzuläuten. Erst müsse geklärt sein, mit welcher Verhandlungsposition die Briten auf die EU zugehen – wie also der zukünftige Status der Beziehungen zwischen der Europäischen Union und ihrem ersten Exmitglied aussieht, vor allem was Handel und Freizügigkeit angeht.

Soll Großbritannien mit der EU Abkommen ähnlich denen von Norwegen oder der Schweiz schließen? Sonderabkommen? Einen Assoziierungsvertrag? Lieber gar nichts? Ist es wichtiger, die Zuwanderung zu begrenzen oder Londons Stellung als zentraler Finanzplatz für Europa zu wahren?

Aus der EU austreten ist nämlich nicht so einfach. Sämtliche EU-Regeln sind Teil der Gesetzgebung jedes Mitgliedslandes. Bei einem Brexit muss Großbritannien entscheiden, welche davon nach einem Austritt gültig bleiben. Insgesamt wären nach Meinung von Experten bis zu 70 unterschiedliche Gesetzespakete nötig, um in allen Bereichen die bestehende EU-Gesetzgebung durch neue nationale Gesetzgebung zu ersetzen. Jedes neue Gesetz braucht Zeit.

Chris Grayling, konservativer Fraktionsführer im Unterhaus und EU-Gegner, stellte Mitte Juni einen geordneten Abschluss des Brexit bis Ende 2019 in Aussicht. Das würde bedeuten, Artikel 50 erst Ende 2017 anzuwenden. Bis dahin könne aber das Parlament Fakten schaffen, beispielsweise durch Einschränkung der Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs in Großbritannien. Eine Kündigung des „European Communities Act“ von 1972, der die Grundlage der britischen EU-Mitgliedschaft darstellt und ohne das keine EU-Regel in Großbritannien Gültigkeit besäße, käme aber frühestens 2018 infrage.

Andere konservative Parlamentarier aus dem Anti-EU-Lager wünschen sich einen solchen Schritt deutlich früher. Mehrere führende Verfassungsrechtler sagen, nicht das Referendum, sondern erst eine förmliche parlamentarische Aufkündigung des EU-Gesetzes von 1972 ermächtige den Premierminister überhaupt, Artikel 50 anzuwenden und den EU-Austritt einzuleiten. Dies ergebe sich aus der britischen Verfassungsdoktrin der parlamentarischen Souveränität, die auch im Zentrum der verfassungsrechtlichen Argumentation für den Brexit steht.

Momentan stiftet vor allem Camerons Rücktrittsankündigung ohne Nachfolge politisches Chaos

Einig sind sich alle: Sofort den zweijährigen Austrittsprozess gemäß Artikel 50 zu starten, geht nicht. Niemand auf EU-Ebene scheint sich vor dem Referendum bemüht zu haben, diese Haltung in Erfahrung zu bringen. Hätten sie es getan, wären sie heute weniger irritiert.

Allerdings hat Cameron alle überrumpelt: mit seinem Rücktritt. Vor dem Referendum hatte Cameron versprochen, im Falle einer Niederlage im Amt zu bleiben und den Austritt selbst umzusetzen. Nun macht er das Gegenteil. Das ist nicht hilfreich. Nicht so sehr das britische Nein zur EU ist für die aktuelle politische Krise verantwortlich, sondern Camerons Rücktrittsankündigung ohne Nachfolge, was Chaos über Monate stiftet.

Auf der ersten Kabinettssitzung seit dem Referendum am Montag setzte der Premier immerhin eine interministerielle Arbeitsgruppe ein, die erste Vorlagen erarbeiten soll. Geleitet wird sie von Oliver ­Letwin, Camerons Kabinettschef und einer der führenden intellektu­ellen Köpfe der Konservativen. Cameron hat angekündigt, auch die Regionalregierungen von Schottland, Wales und Nordir­land und die Stadtverwaltung von London zu beteiligen, ebenso Irland, Gibraltar und die britischen Überseegebiete. Auch die siegreiche „Vote Leave“-Kampagne möchte mitreden.

Aber all das wird viel Zeit in Anspruch nehmen. Bis zum Anfang vom Ende der britischen EU-Mitgliedschaft ist es noch ein weiter Weg. Und ob die britischen Vorschläge Verhandlungen mit den anderen 27 EU-Ländern unbeschadet überstehen, steht in 27 Sternen.

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