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„Wir tragen eine Mitschuld an diesem Völkermord“

Wirkung Cem Özdemir unterstützt die Genozidresolution des Bundestags. Der Grünen-Chef ist sich sicher, dass das den Druck auf Ankara erhöhen wird

Foto: dpa
Cem Özdemir

ist seit 2008 Kovorsitzender der Grünen, derzeit gemeinsam mit Simone Peter. 2017 will der 50-Jährige grüner Spitzenkandidat werden.

taz: Herr Özdemir, glauben Sie wirklich, dass die Verurteilung des Völkermords an den Armeniern durch den Bundestag der Vergangenheitsbewältigung in der Türkei nutzt?

Cem Özdemir: Auf Dauer ja, kurzfristig nicht. Die Reaktionen aus der Türkei sind ja derzeit scharf. Was Ankara dabei ausblendet, ist, dass der Bundestag handelt, weil es eine deutsche Mitverantwortung am Völkermord gibt. Die Bundesrepublik ist Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reichs, das im Jahr 1915 Hauptverbündeter des Osmanischen Reichs war. Dass auch wir jetzt von Völkermord reden, erhöht den Druck auf Ankara. Die beschönigende offizielle Geschichtsversion in der Türkei wird sich auf Dauer nicht halten.

Wird es Gegenmaßnahmen von Erdoğ an geben?

Das weiß man bei ihm nie so genau. Als wir im Bundestag über Fraktionsgrenzen hinweg im April 2015 von Völkermord gesprochen haben, war die Reaktion aus Ankara zurückhaltend. Manche kritisieren, dass der Zeitpunkt für die Resolution jetzt ungünstig ist. Mag sein. Aber dass wir im Parlament nun zum dritten Mal über das Gedenken an den Völkermord debattieren, liegt doch an dem Versuch der Regierung, das Thema immer wieder wegzudrücken. Also: Große Staatskunst, Frau Merkel und Herr Steinmeier!

Die Völkermordresolution wird „die Konflikte zwischen der Türkei und Armenien sogar verschärfen“ …

Das ist von mir …

Das haben Sie 2001 geschrieben – um den Antrag, zu verhindern, den Sie nun unterstützen. Woher der Wandel?

Ich wäre auch heute noch der Erste, der sagt: Wir sollten die Gespräche zwischen Armenien und der Türkei nicht stören. Nur gibt es diese Gespräche nicht. Deshalb haben wir keinen Grund zurückzuweichen. Alle Versuche, mit den Mitteln der Diplomatie eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Armenien und der Türkei zu erwirken, waren leider vergeblich. Gleiches gilt für den Versuch, einen historischen Konsens mit der Türkei über das, was 1915 geschehen ist, herzustellen. Die Ermordung meines Freundes Hrant Dink 2007, der sich wie kein Zweiter für eine Aussöhnung eingesetzt hat, zeigt doch, wohin die Reise geht.

Etliche Staaten haben in den letzten Jahren den Genozid an den Armeniern verurteilt. Hat das in der Türkei Produktives bewirkt?

Ich glaube, dass der internationale Druck in der Türkei bei manchen Zweifel wachsen lässt, ob es denn wirklich sein kann, dass alle anderen im Unrecht sind. Und ob wirklich stimmt, was noch heute in der Schule gelehrt wird: dass der Türke nur einen Freund hat – den Türken. Ich erlebe zwei verschiedene Reaktionsmuster. Manche leugnen hartnäckig. Ich bekomme Briefe, in denen steht: Wir haben dich, Özdemir, als Armenier damals vergessen. Erstens bin ich kein Armenier, zudem ist die Haltung, dass es keinen Völkermord gab, wir es aber sofort wieder tun würden, entlarvend. Mir schreiben aber auch viele Jüngere, die mehr über die Geschichte wissen wollen. Es gibt ein großes Informationsdefizit.

Das Kaiserreich deckte 1915 den Genozid. Das wird in der Resolution nur angetippt. Warum keine deutlichere Selbstkritik?

Wir stellen diesen Antrag mit SPD und Union. Da mussten wir Kompromisse machen. Das Besondere dieses Antrags ist doch: Wir, der damalige Hauptverbündete, sagen, dass das, was 1915 passiert ist, ein Völkermord war und wir daran eine Mitschuld tragen. Das hat bisher kein deutsches Parlament so formuliert. Ich hätte nicht gedacht, dass dies möglich ist.

Interview Stefan Reinecke

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