: Parlamentarier unter Obhut
BUNDESTAG Nach Morddrohungen erhalten deutschtürkische Abgeordnete Polizeischutz. Türkische Gemeinde lädt zum Dialog und kritisiert Sanktionsforderung gegen Erdoğan
Aus Berlin Anna Lehmann und Konrad Litschko
Özcan Mutlu ging am Sonntag joggen. Sechs Kilometer, am Berliner Stadtrand, mit grünen Parteikollegen – eine kleine Wahlkampfaktion für die bevorstehende Abgeordnetenhauswahl. Mutlu ließ sich seine Teilnahme nicht nehmen, trotz allem nicht.
Seit Samstag steht der grüne Bundestagsabgeordnete unter Polizeischutz – und mit ihm zehn weitere deutschtürkische Parlamentarier. Zuvor waren die Beschimpfungen und Morddrohungen gegen sie in der Debatte um die Armenien-Resolution des Bundestags weiter angeschwollen. Nach einem Sicherheitsgespräch bot das Bundeskriminalamt die Schutzmaßnahmen an. Die Polizeipräsenz an den Wohnungen der Abgeordneten ist nun erhöht, teils erfolgen Personenbegleitungen.
Zudem warnte das Auswärtige Amt die Abgeordneten vor Reisen in die Türkei: Ihre Sicherheit könne dort momentan nicht gewährleistet werden.
Nach der Resolution zum türkischen Völkermord an den Armeniern hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan den Abgeordneten vorgeworfen, diese seien Helfer von Terroristen, ihr Blut sei „verdorben“. Türkische Politiker forderten, die Politiker auszubürgern oder gegen sie wegen Beleidigung der türkischen Nation zu ermitteln. Im Internet tauchten Steckbriefe und Kopfgelder auf.
Über die Sicherheitsmaßnahmen schwiegen die Abgeordneten am Sonntag. Mutlu nannte es allerdings „bedauerlich und beschämend“, erst aus der Presse von der Reisewarnung in die Türkei erfahren zu haben. Die Linke Sevim Dağdelen twitterte, Reisewarnungen reichten nicht. Die Türkei müsse auch Sanktionen zu spüren bekommen: „Wer wie Erdoğan zu Gewalt gegen Bundestagsabgeordnete aufruft, sollte ein Einreiseverbot bekommen.“
Gökay Sofuoğlu
Gökay Sofuoğlu, Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland, kritisierte den Vorstoß. „Mit solchen demagogischen Forderungen schadet man dem deutsch-türkischen Verhältnis. Alle sollten den Ball jetzt flacher halten.“ Die Türkische Gemeinde hatte am Freitag Einladungen an Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU), die Integrationsbeauftragte des Bundes Aydan Özuğuz (SPD) sowie die Fraktionsvorsitzenden aller Parteien verschickt. „Wir sollten uns treffen und miteinander reden, anstatt weiter einen medialen Schlagabtausch zu führen“, sagte Sofuoğlu der taz. Sobald ein Termin gefunden sei, wolle man auch die anderen Verbände fragen, ob sie dazu kämen.
Özuğuz und Grünen-Chef Cem Özdemir hatten zuvor die türkischen Verbände aufgefordert, die Drohungen gegen die Abgeordneten „deutlich“ zu verurteilen. Die Türkische Gemeinde hatte sich bereits „bestürzt“ über die Morddrohungen geäußert, der Moschee-Verband Ditib rief allgemein „zur Mäßigung“ auf. Man verurteile „jeden Aufruf zu Hass und Gewalt“. Die Erdoğan-nahe Union Europäisch-Türkischer Demokraten schweigt dagegen bis heute. Sie hatte im Vorfeld der Abstimmung Protestbriefe an die Abgeordneten verschickt.
Wie groß der Druck in der Community ist, zeigte sich aber in Berlin: Ein Fastenbrechen in einer Neuköllner Moschee mit Bundestagspräsident Lammert, Azize Tank (Linke) und Özcan Mutlu musste nach Protestaufrufen abgesagt werden. Ditib beklagte, dies zeige, wozu der Hass führe.
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