NATURGEWALT Die Küstenländer im Norden schützen sich mit Deichen und Sperrwerken gegen die See. Das wird immer schwieriger, denn das Land senkt sich, der Meeresspiegel steigt und der Klimawandel erledigt den Rest
: Die Angst vorm Blanken Hans

Meer frisst Land: die nordfriesische Küste 1651 und in der Zeit vor der „Groten Mandränke“ am 16. Januar 1362, aufgezeichnet vom Husumer Kartografen Johannes Mejer. Rungholt ist in der rechten Karte östlich von Pellworm eingezeichnet Foto: Abbildung: „Neue Landesbeschreibung der zwei Herzogtümer Schleswig und Holstein“ (1652)/Wikimedia Commons

von Gernot Knödler

Die letzte sehr schwere Sturmflut ist noch gar nicht lange her: In der Nacht zum Nikolaustag 2013 fegte der Orkan „Xaver“ mit Böen von bis zu 160 Stundenkilometern über die Nordseeküste. Am Pegel von Hamburg-St. Pauli erreichte die Flut den zweithöchsten jemals gemessenen Wert. Der Fährverkehr zu den ostfriesischen Inseln musste teilweise eingestellt werden. Ihre Schutzdünen verloren schiffsladungsweise Sand. Doch die Deiche hielten.

Jürgen Schubel, der Schultheiß des Deichverbandes Cuxhaven, gibt sich im Rückblick auf die Sturmnacht gelassen. Die Flut lief hier mehr als drei Meter höher auf als das mittlere Hochwasser – der vierthöchste jemals gemessene Wert. „Da stand bei uns das Wasser den Deich halbhoch und es ist überhaupt nichts passiert“, sagt Schubel.

Seit der bisher schwersten Sturmflut von 1976 hätten seine Leute nicht mehr mit Sandsäcken ausrücken müssen, um einen Deich zu stabilisieren, erzählt der Schultheiß. Das sei zum einen den besseren Prognosen geschuldet. „Die Vorhersagen des Bundesamtes für Seeschifffahrt und Hydrographie kann sich jeder zu Hause auf den Rechner holen“, sagt Schubel. Er selbst und sein Stab machen das so, und wenn sich keine außergewöhnliche Sturmflut abzeichnet, holt er seine Deichverteidiger erst gar nicht aus dem Bett.

Zum anderen haben die Behörden und die Deichverbände nach der verheerenden Sturmflut von 1962 reagiert. Damals gab es eine Reihe von Deichbrüchen und 340 Tote, 315 davon allein in Hamburg. Die Deiche sind seither mehrfach verbessert worden. Cuxhaven erhöhte zuletzt seinen Deich entlang der Elbe auf 8,50 Meter und verlegte die Deichlinie aus der Stadt in den Hafen.

„1962 sind die Deiche nicht von vorne zerstört worden“, sagt der Bremer Deichhauptmann Michael Schirmer, „sondern die Wellen sind bei einem Überschlag wie ein Wasserfall heruntergekommen und haben zu einer Erosion von hinten geführt.“

Als Folge dieser Erkenntnis sind die Deiche nicht nur seeseitig immer flacher ausgezogen worden, sondern auch zum Land hin. Wie in einer Aufstellung des Deichverbandes Cuxhaven zu sehen ist, hat dabei der Flächenbedarf der Deiche überproportional zu ihrer Höhe zugenommen. Der typische Seedeich von 1955 war 5,90 Meter höher als das mittlere Hochwasser und 56,50 Meter breit, der von 1970 gleich hoch, aber 65,30 Meter breit. Heutige Küstendeiche mit acht oder neun Metern Höhe kommen auf eine Breite von 120 Metern. Das ist mehr als ein Fußballfeld.

Wie stark ein Deich ausgelegt wird, hängt unter anderem davon ab, wie groß das Vorland ist, das den Wellen einen Teil ihrer Kraft raubt. Gebaut werden die Deiche in der Regel mit einem verdichteten Sandkern, auf den eine meterdicke Klei-Schicht – entwässerter, toniger Schlick aus dem Marschboden – aufgetragen und mit Gras besät wird. Die Grasnarbe stabilisiert und schützt die Klei-Schicht.

Vor und hinter dem Deich wird ein Graben gezogen, in dem das Wasser ablaufen kann. Ebenso gibt es auf der Vorderseite eine Straße, auf der Treibgut – vom Joghurtbecher bis zur Europalette – beiseite geschafft werden kann, sodass es bei der nächsten Flut nicht die Deckschicht beschädigen kann. Auf der Rückseite verläuft eine Deichverteidigungsstraße, auf der Sandsäcke und Pumpen herbei geschafft werden können, um den Deich zu stabilisieren.

Fast die komplette deutsche Nordseeküste ist auf diese Weise geschützt und auch die Mündungstrichter (Ästuare) von Elbe und Weser, in die ja die Flut mit konzentrierter Macht drückt. Dazwischen gibt es Sperrwerke wie an der Eider- und der Emsmündung oder den Nebenflüssen der Elbe.

Ein gigantischer, aber kalkulierter Aufwand. Laut Generalplan Küstenschutz wäre Niedersachsen ohne Seedeiche um 14 Prozent kleiner, das Land Bremen würde es „praktisch nicht geben“. Der entsprechende Plan für Schleswig-Holstein bezeichnet gut ein Viertel der Landesfläche mit 354.000 Einwohnern und 48 Milliarden Euro an Sachwerten als durch Sturmfluten gefährdet. „Ohne Deiche lägen Bremen und Hamburg heute am Rande des Wattenmeeres“, sagt der Bremer Deichhauptmann Schirmer trocken.

Dass das so ist, hängt mit dem steigenden Meeresspiegel zusammen. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts verzeichneten die Pegel vor der deutschen Küste einen Anstieg des mittleren Tidehochwassers um 25 Zentimeter in 100 Jahren, gibt der niedersächsische Landesbetrieb Küstenschutz an. Einerseits sei der Wasserspiegel gestiegen, zum anderen habe sich das Land gesenkt – eine Folge der Eindeichung und eines geologischen Effekts: Nach dem Ende der letzten Eiszeit schmolzen die Gletscher in Skandinavien, sodass sich dort die tektonische Platte wie eine Wippe hob, während sie sich in Norddeutschland senkte.

Von einem beschleunigten Anstieg des Meeresspiegels wollen die Küstenschützer jedoch nichts wissen. „Mit dem Norderneyer Pegel kann aber nach wie vor ein beschleunigter Anstieg des Meeresspiegels nicht nachgewiesen werden“, warnt die Behörde.

40 Zentimeter in 100 Jahren

Deichhauptmann Schirmer sieht das anders. Für die Jahre 1950 bis 2005 ermittelte er aus sechs Pegeln einen Anstieg von gut 40 Zentimetern in 100 Jahren. Dabei werde es infolge des Klimawandels vermutlich nicht bleiben, sagt er. Bis 2100 könnte der Meeresspiegel um 75 bis 100 Zentimeter steigen. Das hieße, dass die Sturmfluten um 2,50 bis drei Meter höher aufliefen als heute.

Obwohl der niedersächsische Landesbetrieb für Küstenschutz nicht an eine aktuelle Häufung von Sturmfluten aufgrund des Klimawandels glaubt, hat er die Zahlen in seine Planungen übernommen und will die Deiche bis 2032 um 50 statt nur um 25 Zentimeter erhöhen. Überdies werden die Deiche so ausgelegt, dass sie jederzeit erhöht werden können.

Weil der Deichbau mit der rauer werdenden See möglicherweise nicht mithalten kann, schlägt Schirmer vor, dem Meer entgegenzukommen: Die Deiche könnten so gebaut werden, dass zwar mal die eine oder andere Sturmflutwelle darüber hinweg läuft, sie dabei aber trotzdem stabil bleiben.

Damit verbunden ist der Vorschlag, auf lange Sicht eine zweite Deichlinie aufzubauen, um landeinwärts gelegene Dörfer, Äcker und Windräder zu schützen. „Damit könnte man sicher einen Meter Meeresspiegelanstieg auffangen“, schätzt Schirmer. In den Niederlanden gibt es das schon.

Überdies wäre zu erwägen, ob der Deich nicht an manchen Stellen geöffnet werden könnte, um die Tide hereinzulassen. Sie brächte Schlick mit und würde, so die Idee, das Land hinterm Deich wachsen lassen. Andererseits könnte der Schlick dann dem Wattenmeer fehlen, womit das kostbare Vorland geschwächt würde.

Deichbau, das sagen alle, die damit zu tun haben, ist eine Daueraufgabe. Und wenn sich Schirmer ansieht, wie das Eis am Nordpol und die Gletscher schmelzen, dann wird er ganz unruhig. „Wenn man das zusammenrechnet“, sagt er, „würde man am liebsten gleich mit der Schaufel loslaufen.“