Trauma Die Sängerin Chiha kommt aus einer Oase in der Sahara, wo Frauen nur zum Kinderkriegen gut waren. Als sie ging, war sie glücklich: Sie kletterteauf Palmen
Von Waltraud Schwab
Als Chiha acht Jahre alt war, wurde aus ihr eine Sängerin. Sie spürte den Sog, bevor sie es wusste. Eine dunkle Frau hatte dem Mädchen die Kehle geöffnet. In lumpigen Kleidern tauchte die Alte im Dorf auf. Chiha, noch Kind, sah sie, wie sie auf Beschneidungsfeiern, auf Hochzeiten sang. Ohne die Augen zu schließen, erscheint ihr die Frau heute, 62 Jahre später, wie damals: „Sie hat gestampft, eine Trommel in der Hand, eine tiefe, raue Stimme. Sie hat gespuckt beim Singen, war drin in ihrem Lied – wie besessen. Wenn sie anfing, der erste Laut krächzend, der nächste schon gewaltig, wurde aus der zerlumpten Gestalt eine Herrscherin. Sie gebar Licht, gebar Kraft.“
Degache heißt das Dorf, eine Oase, in der Sahara im Süden Tunesiens, wo Chiha aufwuchs. Höchstens 3.000 Einwohner damals, schätzt sie. Der Ort liegt in der Nähe des großen Salzsees Chat Ejerid. Mit Freuden sei sie von dort weggegangen.
Oft sang die alte Sängerin ein Lied, das Chiha als Achtjährige nicht verstehen konnte und dennoch verstand: „Ihr sagt, die Geduldigen werden ihr Ziel erreichen. Ich hatte so viel Geduld und mein Ziel nicht erreicht.“ Ein Lied für die Frauen sei das gewesen. „In Degache waren Frauen Sklaven. Mädchen wurden früh verheiratet. Nur fürs Kinderkriegen waren sie gut.“ Was für andere „herausgerissenes Herz“ heißt, heißt für Chiha „Degache“.
Chiha kopierte die Sängerin. „Wenn ich als Kind traurig war, habe ich gesungen.“ Sie nahm einen Karton, schnitt ein Loch in eine Seite, stülpte es sich über den Kopf, „das war mein Radio“.
Sie erzählt das in der Berliner Wohnung ihrer Agentin, die ihr ab und zu Konzerte vermittelt, in Clubs, auf Festivals, neuerdings auch in Flüchtlingsunterkünften. „Ich singe viel für Menschenrechte.“ Einmal bringt sie den arabischen Sound so auch in die Traglufthalle im Berliner Bezirk Moabit, wo 250 Flüchtlinge wohnen. Bierbänke sind in einer Ecke des Zeltes aufgestellt und ein Platz davor mit Boxen und Mikrofon ist die Bühne. Die Akustik ist schlecht. Chiha sitzt dort mit einem Tamburin in der Hand, aber sie könnte noch so trommeln und singen, die Tristesse kann sie nicht auslöschen, das Herausgerissensein, das Sprachlossein – obwohl herausgerissen sein und sprachlos sein für sie nicht nur Verzweiflung ist. „Selbst entwurzelt hat man noch Wurzeln“, sagt sie.
Chiha ist 70. Ihr feines, ebenmäßiges Gesicht, ihr dynamischer Körper, ihre Zugewandtheit sind stark. Sie sitzt auf der Bühne, schlägt die Trommel, singt von Heimat und Liebe, aber die Worte perlen von den Leuten ab, als wären es Gebete, die man kennt, die jedoch zu einer Sache geworden sind wie leere Becher. Nach dem Wesen des Bechers fragt niemand. Liebe, Heimat. Ja schön. Flucht, Berlin. Ja auch. Trinkt alles.
Von den vielen Flüchtlingen, die in diesem Lufthaus wohnen, tanzt nur einer, ein kleiner Junge, zu ihrer Musik. Er stampft noch unsicher, das Gleichgewicht mühsam haltend, wenn er das rechte Bein hebt, nur das rechte, aber in seinem Stampfen liegt Trotz. Er bringt die Männer, die um ihn stehen, ihn zur Musik anfeuern, zum Lachen.
Das Lied, das in Deutschland am bekanntesten ist, singt Chiha nicht. Es ist eines, wo sie die schleifige, hohe, ornamentreiche, sich nur leicht moduliert wiederholende Melodie, die arabische Musik so betörend und fremd macht, mit deutschem Text unterlegt: „Oh Mami, ich bin verliebt, in ei-einen fre-emden Mann, oh Mami, o-oh Mami. Ich hoffe, dass du mir vergibst, weil i-ich nicht a-anders kann, oh Mami o-oh Mami“, bei manchen Wörtern klingt ihre Stimme heiser und rauchig. Wer das Lied hört, begreift den meditativen Sog der arabischen Musik mit einem Schlag.
Chiha ist Sängerin geworden, wie es ihr die Alte mit auf den Weg gab. Staatssängerin in Tunesien. Die höchste. Die oberste. Degache hat sie auf diesem Weg hinter sich gelassen. Später auch Tunesien. Und noch etwas später den fremden Mann. Nicht hinter sich gelassen hat sie Farben: Grün. Und Blau.
„Grün und Blau“, sagt sie in der Wohnung der Berliner Agentin. Und die Farben werden, kaum ausgesprochen, sichtbar, nehmen, kaum ausgesprochen, Kontur an auf ihrem Körper. „Ich wurde grün und blau geschlagen.“ Wann? Als Kind. Wo? In Degache. Warum? „Weil ich auf Bäume kletterte. Weil ich Fahrrad fuhr. Ich war das einzige Mädchen, das es konnte.“ Wenn sie erzählt, reibt sie die Hände, spannt die Muskeln an, als spüre sie beim Erzählen erneut die Gefahr. „Ich sehe meinen verfärbten Körper.“
„Mein Vater war wirklich grausam“, sagt sie. In der Hochzeitsnacht legte er – Spross einer reichen Familie, Verwaltungsbeamter, Großgrundbesitzer, Leiter der Agrarfachschule in der Oase – ein Tuch vor seine Vermählte, Chihas Mutter. Sie, aus armen Verhältnissen, dachte an Schmuck. Er wickelte es auf und es waren Messer. „Bist du nicht Jungfrau, zerstückle ich dich“, sagt er. Ihre Mutter erzählte ihr dies nach dem Tod des Vaters.
Chiha war das vierte Kind, die vierte Tochter ihrer Eltern. Als die Mutter mit ihr schwanger war, soll der Vater gesagt haben: Noch ein Mädchen und ich verstoße dich. Es wurde ein Mädchen, Chiha. Er schickte seine Frau und die Töchter zurück zur Mutter ans andere Ende des Dorfes. Weil die Verwandten auf ihn einredeten, holte er seine Frau und die älteren drei Töchter zurück. Das vierte Mädchen, damals noch namenlos, nahm er nicht mit. „Satan nannte er mich.“ Manchmal auch „Skorpion“. Eintragen lassen wollte er sie als „Lesch-Scheje“. Es bedeutet: Warum bist du gekommen? Das sei kein Name, sagte der Standesbeamte. Da nannte der Vater sie Chiha – ein Wort mit zwei Bedeutungen: „Wermut“ die eine, „Trockne aus“ die andere. „Obwohl“, meint sie, und ihre Stimme klingt kalt, „der Vater später noch sieben Söhne bekam, mit mir söhnte er sich nicht aus.“ Dann lächelt sie doch, weil ihr auffällt, dass in der deutschen Sprache „Söhne“ und „Versöhnen“ zusammengehören. Für so was liebt sie das Deutsche.
In Degache wuchs Chiha bei der Großmutter auf, eine Nachbarin stillte sie. „Ich hatte einen Milchbruder mit Klumpfuß, Mahmut.“ Die Behinderung taucht jedes Mal auf, wenn sie ihre Geschichte erzählt. Als wäre die Behinderung eine erlaubte Unartigkeit. Der Milchbruder war wie eine Tür für Chiha. Er zeigte ihr, dass man unangepasst sein kann. Sie lernte auf seinem Fahrrad zu fahren. Mädchen durften das nicht. „Grün und blau wurde ich geschlagen.“ Der Milchbruder kletterte auf Palmen. Chiha tat es ihm nach. Mädchen durften das nicht. „Grün und blau wurde ich geschlagen.“ Sobald sie aufgehört hätten, sei sie wieder auf Bäume geklettert. Geschlagen worden sei sie von allen, Onkel, Nachbarn. Sie wischt mit der Hand durch die Luft.
Beim Erzählen fällt die Chronologie zusammen. Sie sitzt nicht in einer Berliner Wohnung im Jahr 2016. Sie kauert auf dem staubigen Boden vor der Lehmhütte der Großmutter in den 50er Jahren und erlebt alles wieder. Einmal, es soll sehr heiß gewesen sein, „über 50 Grad“, sei sie mit ihren Kleidern in den See am Dorfrand, um sich abzukühlen. Jemand sah sie. Die Strafe sei schlimmer gewesen als je zuvor. „Nur weil ich mich erfrischen wollte.“ – Als ihr Wochen später dieser Text, noch vor der Veröffentlichung, in Karlsruhe vorgelesen wird, beginnt sie an dieser Stelle zu weinen. „Bitte schreiben Sie, dass dieser Vater von seinen Töchtern gehasst wurde. Bitte schreiben Sie, dass Eltern, die so zu ihren Kindern sind, von ihren Kindern gehasst werden.“
Chiha will keinen Hass. Sie will Freude. Sie zeigt das Haus in Karlsruhe, wo sie jetzt lebt. Im Garten steht eine Ölpalme. „Ein wenig Tunesien ist es.“ Ihr zweiter Mann hegt den Baum für sie. Gerade allerdings verfolgt er auf dem Computer den Paketboten. Er hat eine neue Autobatterie bestellt. „Noch elf Stationen“, sagt er. „Das schaffen wir, bevor wir los müssen zum Bahnhof.“
Als Chiha zwölf war, holte der Vater sie doch zurück in sein Haus. Groß war es, es hatte drei Tore – für sie, ihre Schwestern, ihre Mutter verschlossen. Chiha konnte nicht mehr, wie vorher, zur Schule, nicht einkaufen, das Haus nicht verlassen. Besorgungen wurden von Jungen vor der Tür abgelegt. Einzig lesen durfte sie, ihr Vater hatte eine beachtliche Bibliothek. „Jeden Tag, wirklich jeden Tag“, sagt Chiha, und sie sagt es mit klarer, kraftvoller Stimme, „betete ich, dass mein Vater morgens tot im Bett liegt.“ Mit ihm spricht sie in den nächsten fünf Jahren so gut wie kein Wort.
Eines Tages, Chiha ist 17, ruft er nach ihr. Es ist kein Triumph in der Stimme, wenn sie erzählt, was dann kam: Sie hat Angst, zu ihm zu gehen, tut aber, wie befohlen. Ihr Vater streckt ihr einen Socken hin, der ein Loch hat. Sie stopft es, bringt ihn zurück. Da passiert etwas Unerwartetes: Er schenkt ihr ein Stück Halva. „Noch niemals zuvor hat er mir etwas geschenkt.“ Sie isst die Süßigkeit nicht, wirft sie weg. „Für mich war sie vergiftet.“
Am nächsten Morgen, dem 4. April 1962, liegt der Vater, 43 Jahre alt ist er, tot im Bett. „Es war das größte Glück. Ich konnte mir kein größeres Glück vorstellen.“ Da dachte sie, die nicht an Gott glaubte, es gebe göttliche Gerechtigkeit. Viele Jahre nach seinem Tod sagt ihre Mutter zu Chiha: „Du hast mich befreit.“ 25 Jahre hatte sie das Haus nicht verlassen. „Wie ein Gefängnis – die Fenster nur zum Hof.“
Dass Chiha, als sie ins Haus verbannt war, nicht verheiratet wird, liegt an der Gesetzgebung, die der tunesische Staatschef Habib Bourguiba, der 1956 ins Amt kam, einführte. Das Heiratsalter war auf 18 Jahre heraufgesetzt worden, Brautverkauf war verboten.
Nach dem Tod des Vaters fährt sie wieder Fahrrad, schwimmt, trägt kurze Röcke, ist die erste Frau in Degache, die ins Kino geht. „Diese unverschämte Chiha, sie verdirbt uns die Mädchen“, sagen die Leute. „Ich war nur im Kino“, sagt sie. Hätte ihr Vater noch gelebt, er hätte sie umgebracht, glaubt sie.
Sobald sie kann, verlässt sie den Ort, und wenn sie zurückkommt, hat sie das Gefühl zu ersticken. „Die Leute sind stehengeblieben mit Fernseher und Coca-Cola.“ Mittlerweile gibt es ein Schwimmbad, aber ihre Nichten dürfen alleine nicht hin.
Woher der Mut kam, gegen das ganze Dorf zu kämpfen, sie weiß es nicht. „Diese islamische Welt ist schlimm für Frauen und Mädchen.“ Früher waren die Bewohner der Gegend um Degache Berber, auch ihre Familie seien Berber gewesen, dann islamisiert. „Stell dir vor“, sagt sie, „der Kalender der Berber ist im Jahr 2936, der arabische Kalender ist halb so alt. Unsere Sprache, unsere Kultur, unsere Geschichte wurden verschüttet. Wir hatten eine Königin, die gegen die Araber kämpfte.“
Als Bourguiba, der Präsident, Südtunesien besucht, wird Chiha gebeten, ein Willkommensgedicht für ihn zu schreiben und es vorzusingen. Bourguiba ist angetan, sorgt dafür, dass sie ein Stipendium bekommt. Sie geht nach Tunis, studiert Gesang, Musik und Tanz, wird Solistin des tunesischen Regierungsorchesters.
Und dann passiert es: Sie verliebt sich in den fremden Mann. Einen Deutschen. Hals über Kopf. Sie folgt ihm. Landet am 11. Dezember 1971 um 17 Uhr in Düsseldorf. Es war bitterkalt, minus 15 Grad. „Und alles war anders: Keine Sprache, keine Freunde. Das schwarze Brot“, sagt sie, „blieb mir im Hals stecken.“ Dauernd fällt sie hin im Schnee.
Nicht lange, und sie bekommt eine Tochter – ihr großes Glück. Auf der anderen Seite das Unglück: Der Mann, für den sie alles aufgab, der ihr versprach, dass sie weitersingen kann, weiterlernen, weiter frei sein, hält sein Versprechen nicht. Also wieder Gefängnis – die Sprache, die sie noch nicht gut konnte, und das Hilfesystem, das sie nicht kannte, waren die Mauern. Es dauert, aber dann verlässt sie den Mann – mit nichts in der Tasche, nur mit dem Kind im Arm. „Es war sehr hart.“ Sie singt, wenn sie traurig ist, für sich, für die Tochter, zieht nach Karlsruhe, kämpft sich durch, arbeitet in der Gastronomie, in der Krankenpflege, engagiert sich für Menschenrechte, Frauenrechte, tritt in die SPD ein – und später, als vom Sozialdemokratischen wenig nur blieb, wieder aus, riskiert alles und eröffnet 1986 eine Boutique, verkauft Tanz- und Abendkleider, es waren die 80er Jahre, der Einzelhandel florierte, klassisch orientalischen Tanz unterrichtet sie auch. Es geht ihr gut.
Freunde ermutigen sie, nicht nur auf Feiern und Solidaritätsfesten zu singen, sondern auch auf der Bühne. Erst seit 1999 tut sie es wieder, singt, wenn sie angefragt wird, diese zarten Lieder, manche mit deutschen Texten, und spinnt damit den Faden zwischen hier und dort. „Oh Mami, o-oh Mami, wir bauen eine neu-eue Welt für unsere Generation, oh Mami, o-oh Mami, voll Vertrauen und Liebe und ohne Tradition, dann gibt es nur eine Hautfarbe und eine Re-e-ligion.“ Junge Leute, Flüchtlinge darunter, mit denen sie ein Konzert im Berliner Club Podewil macht, saugen diese Worte auf. „Es war nicht umsonst“, sagt sie. Und auch in Degache gebe es, wurde ihr erzählt, ein kleines Mädchen, das sich gerne die zu großen Schuhe der Mutter anzieht, sich aufrichtet und sagt: „Wenn ich groß bin, werde ich Chiha.“
In Karlsruhe lebt Chiha nun schon über vierzig Jahre. Sie liebt die geordnete Struktur der badischen Stadt, zeigt das Schloss, die Pyramide auf dem Marktplatz, die Ölpalme im kleinen Garten hinter ihrem Haus.
Beim Abschied am Bahnhof in Karlsruhe war nur diese Frage, ob sie vor allem melancholisch sei oder auch zornig, die alles wieder aufriss. Melancholisch, traurig – ja – sie schluchzt auf, sagt, „es war zu grausam“, sagt, „weißt du, ich sehe immer dieses Kind“, sagt, „heute, die Batterie, ich denke nicht ständig an Batterien, aber wenn es um eine Batterie geht wie heute, ist alles wieder da.“ Dann sieht sie sich als kleines Mädchen, das vor seinem Vater steht, groß soll er gewesen sein, gut aussehend. „Skorpion, bist du wieder auf Palmen geklettert?“, fragt er. Das Mädchen schüttelt den Kopf, aber ihre Beine geben nach, ihr Körper gehorcht ihr nicht. „Ich werde dir Batteriesäure in die Augen tropfen, damit du erblindest und nie mehr auf Palmen steigst“, sagt er.
Als der Zug ausfährt, steht die Sängerin an den Aufzug gelehnt auf Gleis 3.
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