Zionismus Doron Rabinovici und Natan Sznaider diskutieren in „Herzl Reloaded“ die israelische Gegenwartspolitik, den neuen Antisemitismus und die jüdische Diaspora
: Das Märchen, das doch keines wurde

Immigranten treffen kurz vor der Staatsgründung hoffnungsvoll in Haifa ein Foto: Dmitri Kessel/LIFE/getty images

von Micha Brumlik

Heute jährt sich der Tag, da der Staat Israel gegründet wurde – der 14. Mai 1948 – zum achtundsechzigsten Mal. Vor einhundertundzwanzig Jahren, 1896, publizierte der Wiener Journalist Theodor Herzl seine Schrift „Der Judenstaat“, das historisch wirkmächtigste Programm des auch heute immer wieder heftig kritisierten Zionismus.

Obwohl inzwischen angesichts des syrischen Bürgerkriegs mit seiner halben Million Todesopfern und seinen mindestens drei Millionen Flüchtlingen unübersehbar deutlich geworden sein dürfte, dass der Israel-Palästina-Konflikt keines­wegs das Kernproblem des Nahen Ostens ist, stoßen sich noch immer viele politisch Interessierte am Zionismus – nicht selten mit antisemitischen Untertönen. Aber auch Jüdinnen und Juden sind angesichts der Siedlungstätigkeit israelischer Rechtsregierungen beunruhigt – in den USA verliert der Staat Israel unter jüngeren Juden rapide an Zustimmung und Sympathie.

In dieser Situation ist es eines differenzierten Urteils wegen unerlässlich, sich mit der Geschichte des Zionismus auseinanderzusetzen. So hat kürzlich der israelische Historiker Shlomo Avineri eine neue, freilich durchaus konventionelle Biografie von Theodor Herzl, zwar nicht dem einzigen, wohl aber dem bedeutendsten Theoretiker eines Judenstaates, vorgelegt (taz vom 22. 2. 2016).

Mehr Spannung, Disput und anregende Kontroverse als diese Biografie bietet der von dem israelischen Soziologen Natan Sznaider und dem österreichischen Historiker und Romancier Doron Rabinovici gemeinsam verfasste – nein, nicht Brief-, sondern Mailroman: „Herzl Reloaded. Kein Märchen“.

In ebenso kenntnisreicher wie humorvoller Weise fingieren Sznaider und Rabinovici einen Wechsel von E-Mails zwischen ihnen und dem schon 1904 verstorbenen Herzl, der sich mit beiden aus jenseitigen Sphären in Verbindung setzt: „Von: teddyherzl@altneuland.com – Betreff: Herzl reloaded“.

Tatsächlich hatte sich Theodor Herzl mindestens zweimal grundsätzlich zum Projekt eines Judenstaates, also eines Staates der Juden, nicht aber eines jüdischen Staates geäußert: das erste Mal in seiner bündigen Programmschrift „Der Judenstaat“ , dann aber – weniger bekannt – in seinem Roman „Altneuland“ aus dem Jahre 1902, in dem sich der Autor in epischer Breite vorstellt, wie ein solcher Staat der Juden aussehen könnte: Modern in Technik und Kultur, allen seinen Bürgern, Juden, Christen und Muslimen, gleiche Rechte und Toleranz garantierend sowie so sozial, wie sich das ein Journalist wie der fortschrittsgläubige Herzl nur vorstellen konnte.

Sie sind sich darin einig, dass die ­Boykottbewegung gegen Israel ­kontraproduktiv ist

Es ist dieser Hintergrund, vor dem sich die jüdischen Intellektuellen Sznaider und Rabinovici kontrovers, aber freundschaftlich darüber klar zu werden versuchen, was heute aus Herzls Traum tatsächlich geworden ist und – vor allem: was aus ihm noch zukünftig werden kann.

So pocht Sznaider in einer E-Mail an Herzl etwa auf das, was den meisten realistischen Beobachtern inzwischen klar sein dürfte: Das Projekt einer „Zweistaatenlösung“ ist endgültig erledigt! „Die Zweistaatenlösung“, so Sznaider an Herzl „ist in der Tat eine Idee und eine Vorstellung, aber sie entspricht nicht der Wirklichkeit.“

Mit Verweis auf die Siedlungen fährt Sznaider fort: „Natürlich kann man sich theoretisch vorstellen, dass all diese Häuser und Institutionen zerstört werden, die Menschen ins Kernland – notwendigerweise auch mit Gewalt, gebracht werden, das Land an den Rand eines Bürgerkriegs gedrängt wird, nur dass ein Palästina entstehen kann, dessen Form und Zustand keiner voraussehen kann.“

In diesem Kontext plädiert Sznaider dann in freilich höchst problematischer Weise für eine „liberale Ungleichheit“ gegenüber den Palästinensern sowie dafür, wieder mehr über Minderheits- denn über Menschen­rechte nachzudenken. Aus den fingierten Antworten Herzls wird klar, dass er als Denker der Jahrhundertwende für diese Problematik in seinem Optimismus weder Kategorien noch Antworten hatte.

Ähnliches gilt auch für Rabinovici, der aus Gründen politischer Korrektheit an dem Programm der „Zweistaatenlösung“ festhält.

Bei allen Differenzen mit Blick auf Zukunft und Menschenrechte der Palästinenser sind sich Sznaider und Rabinovici jedoch darin einig, dass die etwa von kirchlich organisierten Menschenrechtsgruppen sowie von jüdischen Linken wie Judith Butler getragene Boykottbewegung gegen Israel kontraproduktiv ist, denn – so Rabinovici: „Das Fatale an der Boykottbewegung ist, dass sie die nationalen Fronten auf Kosten der intellektuellen Auseinandersetzung verhärtet. Durch so einen Boykott werden vor allem die kritischen Kräfte des Landes getroffen …“ Mit der Folge eines weiteren Erstarkens der israelischen Rechten.

Wer also daran interessiert ist, die Diskussionen einer jüdischen Linken in Israel und in der Diaspora in ihren unterschiedlichen, kontroversen Haltungen zum jüdischen Staat und seinen rechten, nationalkonservativen Regierungen mitsamt ihrer völkerrechtswidrigen Siedlungspolitik kennenzulernen und nachzuvollziehen, der möge zu Doron Rabinovicis und Natan Sznaiders „Herzl Relaoded“ greifen.

Kurzweiliger und eindringlicher kann man sich derzeit nirgends über Israel und den Zionismus informieren.

Doron Rabinovici, Natan ­Sznaider: „Herzl Reloaded. Kein Märchen“. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, 207 S., 19,95 Euro