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Nähe Millionen Menschen verweigern sich Berührungen. Bei vielen ist die Produktion des Hormons Oxytocin gestört. Befördern Fernbeziehungen, Wunschkaiserschnitte und 70-Stunden-Wochen diesen Mangel?Die unterkuschelte Gesellschaft

Von Margarete Moulin

Jakobs bester Freund ist der Baum, der im Schulhof steht. Unter ihn zieht er sich zurück, wenn die anderen Kinder mit dem üblichen Hofpausenkrawall beginnen. Viele von ihnen wissen nicht, dass Jakob ein autistischer Junge ist, und weil sie es auch nicht wissen sollen, wurde sein Name geändert. Was die anderen Kinder aber wohl bemerken, ist: Jakob mit der Brille scheut jede Nähe.

Er will niemanden anfassen und von niemandem angefasst werden. Er schaut niemandem gerne in die Augen, er will nicht mit den anderen spielen. Seine ältere Schwester Elsa, 12 Jahre alt, stelle sich manchmal schützend vor ihn, wenn andere Kinder über ihn lästerten, sagt Jakobs Mutter.

Wenn sie von ihm erzählt, erzählt sie von einem Jungen ohne Freunde. Der mit fünf Jahren lesen konnte, aber die Gleichaltrigen beim Kinderturnen biss. Der sich heute, mit acht, nach kurzer Zeit aus der Umarmung befreit, wenn sie ihn drückt. Der mit eingerollten Fingern durch die Welt geht, um gar nicht erst den Eindruck zu erwecken, er könnte jemandem die Hand geben wollen.

Was ist los mit Jakob?

Die Antwort schien in seinem Fall nahezuliegen: Er ist Autist, also ist es schwer, Zugang zu ihm zu finden. Er schottet sich ab und interagiert kaum mit anderen. Wenn er nicht auf den Arm genommen werden wollte; wenn er bei der Babymassage schrie, dachten seine Eltern: Er will das eben nicht. Also ließen sie ihn in Ruhe.

Aber vielleicht würde er ja doch wollen. „Autist“ klingt nach Sonderfall. Doch Jakob ist keiner. Es gibt auch viele nicht autistische Menschen, die nicht berührt werden wollen.

Jakob, die vermeintliche Ausnahme, ist einer von Millionen in Deutschland.

Uta Streit und Fritz Jansen haben sich auf diese Fälle spezialisiert. Sie betreiben eine psychotherapeutische Praxis in München. Jede Woche erreichen sie Anfragen verunsicherter Menschen, deren Kinder oder Partner ablehnen, was normal und natürlich sein sollte: kuscheln, umarmen, ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht. Nähe eben.

Rund zehn Prozent aller Menschen in Deutschland mögen es Uta Streit zufolge nicht, berührt zu werden oder längeren Augenkontakt aufzunehmen. Über Haut- und innigen Blickkontakt erfolgt bei gesunden Menschen eine vermehrte Ausschüttung von Oxytocin. Das Hormon, das Forscher seit einigen Jahren verstärkt erforschen, baut Ängste und Stress ab und vermag ein Gefühl von Vertrauen auszulösen.

Menschen, die Nähe vermeiden, mangelt es unter Umständen an Oxytocin. Woher aber dieser Mangel?

Trägt das moderne Leben dazu bei? Es liegt nahe, das Phänomen zumindest auch im größeren Zusammenhang zu betrachten, als mögliches Symptom einer flexiblen und mobilen Gesellschaft, als Symptom von Wohlstand und Individualisierung: Kinder schlafen im eigenen Zimmer und nicht mehr bei den Eltern, wie es in vielen Ländern der Welt üblich ist. Weite Teile der Kommunikation werden über technische Geräte abgewickelt, die zwar Nähe herstellen – allerdings eine besondere Form davon: Nähe auf Distanz. Fernbeziehungen sind keine Ausnahme, sondern für viele die Regel. Der Spagat zwischen Arbeit und Familie ist für viele schwierig. Was bisweilen auf der Strecke bleibt, ist die Zeit für den Aufbau wirklich enger Beziehungen.

In der Psychologie hat die Abwehr von Berührung und Nähe einen Namen: Körperkontaktstörung. Hunderte von Beispielen haben Uta Streit und Fritz Jansen, die Münchner Therapeuten, in den vergangenen 20 Jahren mit einer Kamera aufgezeichnet oder von Kollegen aufzeichnen lassen.

Das Video von der kleinen Lea etwa: Ihre Mutter sucht den Augenkontakt zu ihrem Kind, das sie hochgenommen hat, und versucht zu lächeln. Lea aber, ein knappes Jahr alt, ballt die Fäustchen, macht sich steif und schreit los. Sie beruhigt sich erst, als die Mutter sie wieder auf die Decke neben sich legt.

Ein anderes Video: Ein sechsjähriger Junge sitzt auf dem Schoß des Vaters. Dessen Hände stützen den Rücken des Kindes. Aber der Junge beugt sich weg. Die Augen geschlossen, lässt er den Kopf hintenüberhängen. Minutenlang ist er im inneren Exil. Erst als der Vater ihn loslässt, wird er wieder aktiv.

Und noch ein Video: Ein Ehepaar auf einem Sofa. Als die Frau ihre Hand auf die ihres Mannes legt, zieht er sie reflexartig zurück. Er vermeidet ihren Blick. Sie verschränkt die Arme.

„Sein Kind oder seinen Lebenspartner instinktiv immer wieder mal mit Nähe und Körperwärme zu umhüllen, ist bei Menschen mit einer Körperkontaktstörung nur schwer möglich – oder sogar unmöglich“, sagt Uta Streit. „So erleben diese auch nie das glückliche Gefühl von Geborgensein.“

Berührung und längerer Blickkontakt, selbst mit nahestehenden Personen, löst bei ihnen kein angenehmes Gefühl aus, sondern Stress. Die Reaktion: Abwehr, Flucht oder inneres Abschalten. „Wir brauchen das Hormon Oxytocin beispielsweise für jede Form der echten Kommunikation, für das sogenannte soziale Sehen und Hören, um Veränderungen in der Mimik oder Tonlage anderer Menschen wahrzunehmen und zu deuten“, sagt Streit.

Oxytocin ist ein Peptid, das im Hypothalamus gebildet wird, einem uralten Teil unseres Gehirns. Es ist sowohl ein Hormon, das im Blutkreislauf seine Wirkung entfaltet, als auch ein Neurotransmitter, der im Gehirn Prozesse in Gang setzt, die unser Empfinden, Denken und Handeln steuern. Das Oxytocinsystem ist somit die Schaltstelle zwischen unserem Sozial- und unserem Innenleben. Es bewirkt die Fähigkeit, zu vertrauen, in sozialen Austausch zu treten, neugierig zu sein und sich zu entspannen. Kurz: Eine Gesellschaft ohne Oxytocin funktioniert nicht.

Im übertragenen Sinn kann man sagen: Wenn es vielen einzelnen an Oxytocin mangelt, mangelt es auch der Gemeinschaft daran.

Kerstin Uvnäs Moberg, eine Pionierin und die Grande Dame der internationalen Oxytocinforschung, glaubt tatsächlich: Wir leben in einer unterkuschelten Gesellschaft.

Als die schwedische Physiologin, eine große Frau mit hohen Wangenknochen, die eine Aura von Menschenfreundlichkeit umgibt, vor Kurzem bei einem Symposium bei München auftrat, sagte hinterher eine Zuhörerin: „Wenn sie redet, steigt im Saal der kollektive Oxytocingehalt!“ Uvnäs Moberg ist über 70, doch immer noch lehrt sie am Karolinska-Institut in Stockholm, einer renommierten medizinischen Forschungseinrichtung. Mehr als 400 Studien hat sie zum Thema Oxytocin durchgeführt, dazu vier populärwissenschaftliche Bücher geschrieben, zuletzt kam „Oxytocin, das Hormon der Nähe“ auf Deutsch heraus.

Der Wohlstand hat nicht die Biologie umgebaut

Bei Uvnäs Moberg wird ein medizinisches auch zum Gesellschaftsthema. Sie stellt Zusammenhänge zwischen biochemischen und sozialen Vorgängen her. „Das Thema geht alle an, ob Mann, Frau oder Kind, ob alt oder jung“, sagt sie.

Das Bedürfnis nach Kontakt und Nähe ist urmenschlich. Es garantiert der Gattung das Überleben. Industrialisierung und rapide ansteigender Wohlstand in der westlichen Welt haben unsere Lebensbedingungen und gesellschaftlichen Werte verändert. Dass Kinder ein eigenes Zimmer haben, ist selbstverständlich. Der Anteil der Singlehaushalte in Deutschland liegt bei mehr als 40 Prozent. Aber die Biologie des Menschen ist womöglich weniger flexibel.

„Was geschieht bei Kleinkindern, die immer früher und länger von ihren Eltern getrennt sind? Was bedeutet es für eine ganze Gesellschaft, wenn die gemeinsame Zeit einfach nicht ausreicht, um echte Nähe zu entwickeln?“, fragt Uvnäs Moberg. Sie, selbst vierfache Mutter und Großmutter mehrere Enkelkinder, sieht den politisch und wirtschaftlich geförderten Trend kritisch, den Menschen als Einzelwesen zu sehen, das heute hier und morgen da sein kann, unabhängig und im Dauerkontakt per Skype und Smart­phone. „Der Mensch ist weniger dafür gemacht, jemand zu sein, als vielmehr, zu jemandem zu gehören“, lautet das Fazit der Physiologin. In einer Welt, in der Unabhängigkeit als wichtig erachtet wird, ist das ein provokantes Statement.

Menschen ziehen für Jobs heute um die halbe Welt. Familienväter leben getrennt von Frau und Kindern. 70-Stunden-Wochen dienen als Beweis des Erfolgs. Nicht Beziehungen stehen bei vielen im Vordergrund, sondern Bestätigungen von außen.

Lange haben sich die Wissenschaften für den Aspekt der Unterkuschelung in der flexiblen Arbeitsgesellschaft nicht interessiert – außer eben Berührungsforscher wie Uvnäs Moberg. Sie vermutet: Unsere Lebensweise, die von Mobilität und technischer Kommunikation geprägt ist, dafür wenig von echtem körperlichem Kontakt, hat allgemein zu einem Absinken des Oxytocinspiegels selbst bei eigentlich gesunden Menschen gesorgt. „Im Durchschnitt hat jeder von uns nur noch wenige Minuten täglich Körperkontakt. Das ist viel zu wenig. Unser Hauthunger wird nicht mehr zur Gänze gestillt.“

Die Ursache einer medizinischen Körperkontaktstörung liegt freilich häufig bereits in der Geburtsstunde eines Menschen. Das Oxytocinsystem eines Neugeborenen wird dadurch angekurbelt, dass es unmittelbar nach der Entbindung einen ungestörten Kontakt mit seiner Mutter hat.

Geschieht das nicht, kann es passieren, dass sich ein Kind so entwickelt wie die kleine Lea aus dem Video.

Bei Lea wurde eine Körperkontaktstörung diagnostiziert, als sie ein knappes Jahr alt war. Sie kniff ihre Schwester, sie ließ sich von der Tagesmutter nicht hochnehmen, sie lächelte nicht. „Nicht ein einziges Mal im ersten Lebensjahr ist sie auf meinen Armen eingeschlafen“, sagt ihre Mutter am Telefon, „dort, wo sich kleine Kinder doch am ehesten fallen lassen.“

Die Ärzte gehen davon aus, dass Leas Körperkontaktstörung mit ihrer Geburtssituation zu tun hat. Kurz bevor sie per Kaiserschnitt zur Welt kommen sollte, geriet ihre Mutter in Panik: Die Rückenmarksnarkose wirkte nicht. Den ersten Schnitt des Skalpells erlebte sie bei voller Schmerzempfindung. Eine Totalanästhesie erfolgte. „Die Geburt habe ich als traumatisch in Erinnerung, ich konnte meine Tochter in den ersten Stunden nicht bei mir halten“, erzählt die Mutter. „Anstatt uns danach immer näherzukommen und daraus Kraft zu schöpfen, gerieten wir in einen permanenten Teufelskreis aus Stress. Selbst das Stillen war eine einzige Enttäuschung, meine Tochter trank, ohne diesen eigentlich innigen Moment zu mögen, und hat danach fast alles wieder ausgespuckt.“

Ein fein austarierterMechanismus

Die höchste Ausschüttung von Oxytocin können Frauen während und nach einer natürlichen Geburt erreichen, wenn sie sich dabei sicher und gut betreut fühlen. Oxytocin löst die Wehen aus, mindert die Schmerzen, sorgt für den Ausstoß der Plazenta, für den Milcheinschuss und wird während des Stillens ausgeschüttet. Es bewirkt bei der Mutter eine starke körperliche und emo­tio­nale Hinwendung zum Kind.

Auch beim Vater steigt durch die Geburt des Kindes der Oxytocinspiegel. Die Eltern sind auf die Augen des Kindes konzen­triert und beginnen, in der sogenannten Ammensprache zu reden, einem melodischen, einfachen Sprachstil – sie begeben sich brabbelnd auf Augenhöhe mit dem Kind. All das wirkt sich wiederum positiv auf das Oxytocinsystem des neugeborenen Menschen aus.

Wird dieser Prozess, wie bei Leas Mutter, durch eine Narkose blockiert oder später durch eine Trennung der Mutter vom Kind unterbrochen, kann eine Beziehungsstörung die Folge sein. „Ich habe ihre Körpersignale nicht verstanden und sie meine nicht“, sagt sie.

Die Zeit unmittelbar nach der Geburt ist also der Knackpunkt für die Aktivierung des Regelkreises aus Beziehung, Oxytocinproduktion und Wohlbefinden.

Kerstin Uvnäs Moberg, die schwedische Oxytocinforscherin, sieht auch dies in einem größeren, gesellschaftlichen Kontext. „Wir wissen inzwischen, dass dieser fein austarierte Mechanismus massiv gestört wird“, sagt die Physiologin am Rande der Tagung in München – und zwar sowohl durch Kaiserschnittgeburten als auch durch Wehenmittel und Teilnarkosen bei Vaginalgeburten. Die steigende Anzahl von Wunschkaiserschnitten etwa – viele Kinder kommen heute zu vereinbarten Wunschterminen auf die Welt – sieht sie als fatale Fehlentwicklung. Als Symptom einer Gesellschaft, in der selbst verbindende und eigentlich unplanbare Erlebnisse wie eine Geburt vorab im Kalender stehen. Geht ein für viele erstrebenswerter Lebensstil womöglich auf Kosten biochemischer Prozesse?

Den grundsätzlichen Wunsch einer Frau nach Unabhängigkeit und Planbarkeit kann die Schwedin gut verstehen. Ihren eigenen Galopp zwischen Labor, Kindern, Betreuungseinrichtung und Haushalt habe sie noch gut in Erinnerung, sagt sie. Aber gegen die menschliche Biologie anzugehen hält sie für leichtsinnig. „Tritt bei einem Kind erst einmal eine Beziehungsstörung auf, bedeutet das im Nachhinein eine Menge problematischer Zeit. Zur Emanzipation gehört für mich, dass die Mütter von ihrem Arzt ehrlich informiert werden. Vor allem wenn bei Eltern das Wissen nicht vorhanden ist, dass man diese Störung mit einer längeren Extraportion Nähe wieder einfangen muss.“

Dass Berührung und Nähe nicht mehr selbstverständlich zum Leben vieler gehören, spiegelt sich darin, dass es inzwischen in jeder größeren europäischen Stadt Kuschelpartys gibt. 2004 veranstalteten ein Sexualtherapeut und seine Partnerin in New York das erste dieser Treffen. Seitdem wird die Idee weitergereicht. Es gibt Apps wie Spoonr, mit deren Hilfe man sich bei akutem Schmusebedarf einen willigen Kuschelpartner suchen kann.

Allein, Kuscheln mit Fremden, das nicht verpflichtet, sei eine Ersatzhandlung, findet Kerstin Uvnäs Moberg. „Was wir brauchen, ist Nähe in unseren eigentlichen Beziehungen.“

Martin Grunwald leitet das Haptik-Forschungslabor an der Universität Leipzig. Es ist das europaweit einzige Labor, das sich wissenschaftlich ausschließlich mit dem Tastsinn beschäftigt. Warum brauchen wir Berührung, Herr Grunwald?

„Körperkontakt ist ein Lebensmittel!“, betont er am Telefon. „Der Tastsinn ist der basalste aller unserer Sinne.“ Er wird im Mutterleib als erster aller Sinne entwickelt, noch ehe der Embryo zwei Zentimeter groß ist. „Ein Mangel an adäquaten Berührungsreizen kann zu schwersten Entwicklungsstörungen führen, weil Oxytocin in der frühen Kindheit ein wichtiger Wachstumsmotor für die Entwicklung von Gehirn und Körper ist.“

Ein Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen?

Über die Knappheit der Zeit, die viele Eltern heute für ihre kleinen Kinder aufbringen, kann er sich aufregen. Er beobachte, sagt er, dass die Selbstverwirklichung durch Arbeit Familien auseinanderreiße. Er gießt seine Kritik in schon oft gehörte Beispiele: Eltern, die auf dem Spielplatz ihre Mails checken. Väter, die an einem fernen Flughafen eine Gutenachtgeschichte lesen und sie der Tochter via Internet schicken.

Ob es früher bessere Väter gab? Darüber ließe sich streiten. Entscheidend an Grunwalds Kritik ist, dass er sie mit biochemischen Prozessen rückkoppelt. „Die Zeit, die das Biosystem Mensch braucht, kann man doch nicht politisch oder ideologisch festlegen!“

Gemeinsam mit seinem Forschungsteam hat Grunwald etwa herausgefunden, dass Magersüchtige unter einer Körperschemastörung und hirnfunktionellen Störungen leiden. Ihr Gehirn begreift nicht, dass ihr Leibumfang viel zu gering ist. Diese Körperschemastörung wiederum, hat Grunwald beobachtet, entwickele sich typischerweise bei Menschen, denen es an liebevoller körperlicher Berührung in der Familie gemangelt hat. Auch Anorexiker ertrügen keine Berührung, so Grunwalds Erfahrung. „Die laufen weg, wenn sie als Therapie Massagen bekommen s­ollen.“

Kerstin Uvnäs Moberg sieht auch einen Zusammenhang zwischen dem Mangel an Berührung und der Zunahme psychischer Erkrankungen, vor allem von Angst- und Gemütsstörungen wie Depressionen. „Wer zu wenig Nähe zu den Menschen hat, die er liebt und denen er vertraut, schüttet weniger Oxytocin aus und wird seelisch und körperlich verletzlicher.“

Im Rahmen einer Studie wurden die Kinder einer Kita in zwei Gruppen aufgeteilt. Eine Gruppe erhielt während der Mittagspause eine Rückenmassage, der anderen Gruppe wurde vorgelesen. Nach drei Monaten zeigte sich ein Effekt, der mehr als ein Jahr anhielt: Die massierten Kinder waren gelassener und neugieriger als die Kinder der Kontrollgruppe.

Bei einem ähnlichen Versuch mit älteren Menschen in norwegischen Pflegeheimen konnte bei der massierten Gruppe die Dosis der Schmerzmittel und Antidepressiva deutlich gesenkt werden. Kerstin Uvnäs Moberg zieht daraus einen Schluss: „In modernen Gesellschaften ist unsere übliche tägliche Ration Nähe zu klein. Sonst würde eine zusätzliche Berührung von nur zehn Minuten nicht ausreichen, sich so positiv auszuwirken.“

Bei Jakob, dem achtjährigen autistischen Jungen, der sich eigentlich jeder Nähe verweigert, kommt der Durchbruch mit einem Labrador namens Hugo.

Hugo ist ein Therapiehund in einer ergotherapeutischen Praxis im bayerischen Penzberg. Eine Dreiviertelstunde lang streichelt ihn Jakob dort. Erst fasst er ihn wie einen Gegenstand an, roboterhaft, mechanisch. Berührung ohne Nähe. Dann stellt die Therapeutin eine Verbindung zwischen ihm und dem Tier her. „Was hat Hugo denn für eine Augenfarbe?“, fragt sie. Jakob schaut ihn an. Er sieht, wie der Hund reagiert; wie er seine Augen schließt, wenn er ihn krault. Immer intensiver streichelt der Junge ihn, und schließlich schläft Hugo, der Labrador, ein.

Wenig später sitzt Jakob auf dem Schoß seiner Mutter, die ihm in die Augen schaut, und hält ihren Blick. Drei, vier, fünf Sekunden lang, viel länger, als sie es aus dem Alltag von ihrem Sohn gewohnt ist. Der Hund hat sein Oxytocinsystem getriggert, und nun öffnet er sich auch den Menschen im Raum.

Wie unabhängig sind wir? „Der Mensch ist weniger dafür gemacht, jemand zu sein, als zu jemandem zu gehören“Kerstin Uvnäs Moberg, OxytocinForscherin, Stockholm

Am Ende des Therapietages, nach einer weiteren Kuschelrunde mit dem Labrador, springt Jakob nicht mehr vom Schoß der Mutter, sondern steigt langsam ab und lässt sich sogar danach noch einmal von ihr an den Schultern berühren und zugleich in die Augen schauen. „Das“, sagt die Mutter, „hat er so noch nie gemacht.“

Die Therapie, nach der Jakob behandelt wird, beruht auf einem Konzept von Uta Streit und Fritz Jansen, den Münchner Therapeuten – sie beruht auf der Konfrontation mit den Reizen, die die Betroffenen meiden. Für Fritz Jansen ist die Warmherzigkeit dabei unabdingbar. „Es geht nicht um Zwang. Einen Menschen mit Höhenangst schiebt man auch nicht gleich auf eine Hängebrücke. Wir gehen immer nur so weit, wie es das Kind oder der Erwachsene gut aushalten kann. Manchmal massieren wir zunächst nur die Füße oder den Rücken oder üben Blickkontakt.“

Bleiben die Symptome indes unbehandelt, können sie sich bis ins Erwachsenenalter verfestigen. Fritz Jansen und Uta Streit sehen Körperkontakt­störungen nicht nur bei Kindern – sondern häufig auch bi einem der Eltern selbst, die mit ihren Kindern in die Praxis kommen. Oft sind das die Väter. Fritz ­Jansen sagt: „Diese Männer merken gar nicht, was sie ihren Kindern Essenzielles vorenthalten. Sie können die Bedürfnisse anderer nicht wahrnehmen.“

Oxytocin

Geburt: Der Name Oxytocin kommt aus dem Griechischen und bedeutet „schnelle Geburt“. Die Bedeutung des Hormons bei der Geburt und für das Stillen ist seit Langem bekannt. Der Stoff fördert die Bindung zwischen Kind und Mutter.

Vertrauen: In den vergangenen Jahren hat Oxytocin viele Spitznamen bekommen: Vom Kuschel- oder Treuehormon ist häufig die Rede, sogar als „Molekül der Moral“ wurde es schon bezeichnet. Es gibt diverse Studien, die zeigen, dass sich Menschen unter Oxytocineinfluss vertrauensvoller verhalten. Sie diskutieren konstruktiver oder vertrauen anderen eher Geld an.

Verstärkerstoff: Die Forschung zeigt auch: Es ist komplex. Oxytocin verstärkt wohl Empfindungen, unter Umständen auch negative, aber es erschafft keine neuen.

Autismus: Kurzfristig kann Oxytocin Studien zufolge das Sozialverhalten von Patienten mit autistischen Störungen verändern. Ob es Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen langfristig helfen kann – und vor allem: welchen und unter welchen Bedingungen –, ist unklar.

Oft flüchteten sich solche Typen Menschen in den beruflichen Erfolg und holten sich den menschlichen Kontakt durch Lob. „Im Extremfall sind das Menschen, die ein Leben wie in einem Kühlschrank führen.“ Soziales Verhalten sei bei ihnen weniger intuitiv als vielmehr eingeübt, ähnlich wie bei Menschen mit Asperger-Syndrom. Und diese haben – dessen ist sich die Forschung inzwischen sicher – einen zu niedrigen Oxytocinspiegel. Wie Jakob.

Die Wirkung künstlichen Oxytocins verfliegt

Das Hormon, das vor gut 100 Jahren entdeckt wurde, lässt sich sich seit etwa 50 Jahren künstlich herstellen. Es gibt zahlreiche Studien, die zeigen, dass sich Menschen nach Verabreichung von synthetischem Oxytocin sozialer, zugewandter und vertrauensvoller verhalten. So bewies eine Studie der Psychologieprofessorin Beate Ditzen vom Institut für Klinische Psychologie der Universität Heidelberg mit erwachsenen Paaren, dass sie sich positiver zueinander verhielten, wenn sie vor einem schwierigen Partnergespräch Oxytocin bekamen. Sie schauten einander mehr in die Augen, stimmten dem anderen öfter zu und gingen einfühlsamer aufeinander ein. Im Anschluss an das Gespräch wurde im Blut ein geringerer Spiegel des Stresshormons Cortisol nachgewiesen.

UngestilltesBedürfnis „Ich war vielleicht sechs Jahre alt, da sagte ich: Mutti, nimm mich doch auch mal in den Arm! Da drückte sie mich mechanisch und tat mir dabei weh“Garrelda Meyer, Oldenburg

Das Problem dabei ist nur: Die Wirkung des künstlichen Hormons verfliegt nach spätestens einer Stunde. Eine echte Therapie muss also darauf basieren, das körpereigene System anzukurbeln. Auf Anfassen und Anschauen.

Sogar noch im hohen Alter.

Garrelda Meyers Mutter war 83 Jahre alt, als sie eine Expositionstherapie machte.

Garrelda Meyer aus Oldenburg wuchs in der Nachkriegszeit auf. Es war eine Zeit, in der es ums Überleben ging, der Vater war gestorben, und die Mutter schenkte ihrer Tochter nur wenig körperliche Zärtlichkeit. Die Tochter erinnert sich: „Ich war vielleicht sechs Jahre alt, da sagte ich: Mutti, nimm mich doch auch mal in den Arm! Da drückte sie mich mechanisch und tat mir dabei weh.“

Geprägt von ihrem ungestillten Bedürfnis nach mütterlicher Zuneigung, wurde Garrelda Meyer selbst Körpertherapeutin. Aber erst als sie selbst schon über 60 war, sprach sie ihre ­Mutter auf deren distanziertes Verhalten an und schlug ihr eine Therapie vor. Zu ihrem Erstaunen war die alte Frau dazu bereit.

„Jetzt erst lebe ich“, habe ihre Mutter gesagt, als sie das Umarmen zum ersten Mal so richtig genoss, erzählt Garrelda Meyer. Zehn Jahre konnten die beiden Frauen ihr neues Verhältnis noch auskosten. 93-jährig starb die Mutter – in den Armen ihrer Tochter.

Margarete Moulin ist Bayern-Korrespondentin der taz. Das Thema Nähe fasziniert sie, seit sie selber Kinder hat

Medizinische Beratung: ­Adrian Serban. Er ist Kinderarzt und Psychotherapeut

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