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Die Schlammschlacht der Volksvertreter

Krise Mehr als zwei Drittel der Abgeordneten stimmen für eine Absetzung der Präsidentin. Doch auch ihre Gegner gelten als korrupt

von Andreas Behn

RIO DE JANEIRO taz | Ein zwei Meter hoher Metallzaun soll die verfeindeten Lager vor dem Kongressgebäude in Brasília auseinanderhalten. Hunderttausende sind an diesem Sonntag gekommen, um auf ihrer Seite des Zauns entweder für oder gegen die Amtsenthebung von Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff zu demonstrieren.

Die Spaltung im Land ist seit Monaten zu spüren. Vielen gilt die Mauer mitten im Regierungsviertel der Hauptstadt als Symbol der politischen Zukunft – jetzt, nachdem kaum noch jemand daran zweifelt, dass Präsidentin Rousseff und mit ihr die Arbeiterpartei PT aus dem Präsidentenpalast gedrängt wird.

Weit über vier Stunden dauerte die Abstimmung im Parlament, die am Sonntagabend wie ein Fußballspiel live auf Großleinwänden im ganzen Land gezeigt wurde. Und so tumultuös und gefühlsgeladen wie beim Fußball lief auch die Sitzung ab. Kurz vor Ende jubelten die meist grün-gelb geschmückten Anhänger der Opposition: Mit 367 von 513 Stimmen stimmten deutlich mehr als die notwendigen zwei Drittel der Abgeordneten für die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens.

Jetzt ist der Senat dran

Das ist mehr als eine Vorentscheidung. Denn im Senat benötigt die Opposition jetzt nur eine einfache Mehrheit, dann muss Rousseff zunächst für 180 Tage ihr Amt ruhen lassen. Nach diesen sechs Monaten, in denen die Amtsenthebung erneut geprüft wird, muss der Senat erneut votieren und diesmal mit Zweidrittelmehrheit gegen die Präsidentin stimmen.

Das Verfahren

Was? Rousseffs Gegner werfen ihr vor, im Wahlkampf 2014 die Haushaltsdaten geschönt zu haben.

Wann? Das Votum im Abgeordnetenhaus war nur der erste Schritt des Verfahrens. Nun muss der Senat bis Mitte Mai mit einfacher Mehrheit dem Amtsenthebungsverfahren zustimmen. Rousseffs Amtsführung würde danach für bis zu 180 Tage ausgesetzt. Am Ende des Verfahrens muss der Senat mit zwei Dritteln für Rousseffs endgültige Amtsenthebung stimmen. (afp)

Gespalten sind auch die ersten Reaktionen: Oppositionsführer Aécio Neves sprach von einem „Sieg der Demokratie“. Parlamentspräsident Eduardo Cunha, der das Verfahren im Dezember angestoßen hatte, erklärte, Brasilien sei in der Talsohle angelangt: „Jetzt ist es notwendig, so schnell wie möglich neue politische Stabilität zu schaffen.“

Für Staatsminister Jacques Wagner dagegen wurden „30 Jahre Demokratie unterbrochen“. Im Namen der Präsidentin erklärte Bundesstaatsanwalt José Eduardo Cardozo, dass Rousseff nicht zurücktreten werde. Sie sei Opfer eines Komplotts geworden. „Deswegen wird sie weiterkämpfen und der Gesellschaft zeigen, dass auf die schwer erkämpfte Demokratie nicht verzichtet werden kann.“

Die Abstimmung war der Höhepunkt einer monatelangen Kampagne, in der Rousseff und die PT für alle Übel im Land verantwortlich gemacht wurden: Wirtschaftskrise, Korruption, politische Stagnation, schlechte Stimmung. Doch erst das drohende Amtsenthebungsverfahren und das Überlaufen der wichtigsten Koalitionspartner zur Opposition kurz vor der Abstimmung brachten den Machtwechsel in greifbare Nähe.

Das Problem für Rousseffs Kontrahenten war allerdings, dass der Präsidentin vielleicht politische Fehler, aber keine Verbrechen vorzuwerfen waren. Diese aber sind Voraussetzung für ein solches Verfahren. Deshalb wurden in Brasilien durchaus übliche Haushaltstricks der Rousseff-Regierung derart aufgebauscht, dass sie von Abgeordneten sogar als „Verbrechen am Vaterland“ bezeichnet wurden. Konkret ging es um die Bezahlung von Staatsausgaben mit Geldern von staatlichen Banken, was in Vorwahlzeiten dazu diente, die kritische Haushaltslage zu verschleiern.

Die Regierung und ihre Anhänger kreiden den Gegnern an, dass „ein Amtsenthebungsverfahren ohne nachgewiesenes Verbrechen ein Staatsstreich“ sei. Mit diesem Vorgehen wolle die Opposition den Weg zur Macht abzukürzen.

Das Tauziehen um die Amtsenthebung und die Korruptionsvorwürfe haben das Vertrauen in Politiker und Parteien erschüttert. Viele Brasilianer winken ab, wenn es um Politik geht. Das ist eine Tendenz, vor der fortschrittliche Kräfte seit Langem warnen. Vor allem populistischen rechten Kandidaten mit markigen Sprüchen bringe das Stimmen ein. Der heftige Rechtsruck im Kongress bei den Wahlen 2014, bei dem vor allem die Agrarierfraktion, die evangelikalen und fundamentalistischen Hardliner und die Vertreter der Waffenlobby an Einfluss gewannen, wird auch auf die Politikverdrossenheit zurückgeführt.

Der frenetische Jubel der Oppositionanhänger über ihren Sieg im Parlament dürfte nicht lange anhalten. Ihre Machtübernahme steht auf wackeligen Beinen. Sobald Rousseff ihr Amt – voraussichtlich im Mai – ruhen lassen muss, wird ihr Vize, Michel Temer, an ihre Stelle treten. Seine PMDB war der wichtigste Koalitionspartner von Rousseffs PT und lief Ende März zur Opposition über. Es wird erwartet, dass er sofort das Kabinett austauscht und eine breite Koalitionsregierung unter Ausschluss der linken Parteien bildet.

Sollte Rousseff nun aber bei der endgültigen Abstimmung des Senats die Nase vorn haben, wäre das Politchaos perfekt. Sollte sie dagegen verlieren, muss Temer nicht nur die Wirtschaftskrise in den Griff kriegen, sondern auch die PSDB von Oppositionsführer Aécio Neves ruhigstellen. Die möchte selbst so schnell wie möglich an die Macht.

Zudem ist Temers PMDB auch nicht beliebt. Den Rechten gilt sie als mitverantwortlich für die Regierungspolitik, den anderen als untreuer Partner. Temer ist überdies Verbündeter des umstrittenen Parteikollegen Cunha, der sich im Korruptionsskandal um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras als erster Politiker vor dem obersten Gerichtshof verantworten muss.

Er wäre unter Temer Vizepräsident; zudem ist er Aushängeschild eines Kongresses, der für viele jede Legitimität eingebüßt hat: Nach Angaben der Organisation Transparência Brasil sind oder waren 273 der 513 Abgeordneten wegen Verbrechen wie Geldwäsche, Bestechung, Betrug und teils sogar schwereren Vergehen angeklagt oder wurden verurteilt. Im Senat sieht es nicht anders aus: Mit 45 zu 36 Senatoren liegt die Quote der vor Gericht gestellten Politiker deutlich über 50 Prozent.

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