: Von Totlegern und Nudelresten
Tierpädagogik Im Bremer Schullandheim Dreptefarm lernen Stadtkinder alles über Tiere – und das auch noch am Beispiel selten gewordener, alter Haustierrassen
von Carolina Meyer-Schilf
Die Schweine haben nur noch den Tunnelblick. Bis eben ließen sie sich die Streicheleinheiten von 14 Kinderhänden gleichmütig gefallen, aber jetzt rennen sie los: Bufdi Tjark Ole Sievertsen hat das Frühstück serviert. Die Schweine fressen die Essensreste von gestern, mit lautem Schmatzen und gelegentlichem Grunzen machen sie sich über einen großen Eimer Nudeln mit Gemüse her.
Auf der vom Nabu betriebenen Dreptefarm in Wulsbüttel bei Bremen leben außer den beiden Schweinen noch mehrere Kaninchen, eine Ziege, Pfauen, Gänse und viele Hühner. Sie alle gehören zu sehr alten und vom Aussterben bedrohten Haustierrassen. Auch sieben Esel und eine Herde Schafe gibt es, aber die stehen etwas abseits des Haupthauses und der anderen Gehege auf ihren eigenen Koppeln. „Mit den Schafen freunde ich mich so langsam an, obwohl die echt laut sind“, sagt Tjark, der Bundesfreiwilligendienstler. Und tatsächlich, die „Rauhwolligen Pommerschen Landschafe“ artikulieren ihr „Bäh“ mit einem ziemlich eigenwilligen, dröhnenden Sound.
Die Dreptefarm ist eines von mehreren Bremer Schullandheimen und für viele Schulklassen und Jugendgruppen ein beliebtes Reiseziel. Insgesamt sechs Mitarbeiter und zwei Bufdis kümmern sich hier um Tiere und Gäste. Tjark, der 19-jährige Freiwillige aus Kiel, ist seit September 2015 hier.
Knapp 80 Betten bietet das Heim zur Zeit, die Schüler können auf dem 67.000 Quadratmeter großen Gelände tief in die Welt der Pflanzen und Tiere eintauchen.
Aus dem Wohntrakt sind bereits fröhliche Frühstücksgeräusche zu hören. Diese Woche ist unter anderem eine Grundschulklasse aus Bremen hier auf Klassenfahrt. Seit diesem Jahr verfolgt das Team der Dreptefarm ein neues Konzept in der Umweltbildung: Nach einem festgelegten Klassenfahrt-Wochenplan versorgen die Kinder gruppenweise die Tiere. So drängen sich nicht zu viele auf einmal in den Gehegen und jeder kommt mal dran beim Streicheln und Füttern.
Langweilig wird es hier niemandem, dafür ist viel zu viel zu tun: Etwa eine Stunde dauert schon die Fütterung der Tiere in den Gehegen am Haus. Der Tag wird durch die unterschiedlichen Programmpunkte strukturiert und bietet viel Abwechslung.
Viele Kinder kennen nur Hund, Katze, Goldfisch
Bei den „Teichforschern“ können die Kinder Libellen und ihre Larven sowie weitere Wasserinsekten beobachten. Eine Eselwanderung steht ebenso auf dem Programm wie Ausflüge in den Wald, Lagerfeuer und dazwischen immer wieder der große Spiel- und Bolzplatz. Fast nebenbei lernen die Kinder viel Neues über die Tiere. „Manche haben auch gar keine Ahnung“, sagt Tjark, „es gibt Kinder, die haben noch nie eine Ziege gesehen.“ Immer mehr Kinder wachsen in Städten auf und haben kaum noch Kontakt zu Tieren jenseits der üblichen Verdächtigen wie Hund, Katze, Goldfisch. Um so wichtiger sind solche außerschulischen Lernorte wie die Dreptefarm, an denen ganz praktisch Umweltbildung vermittelt wird.
Zur morgendlichen Fütterungsrunde hat Tjark das Futter schon in verschiedenen Eimern bereitgestellt, bevor er die Kinder auf dem Spielplatz zusammenruft und mit ihnen loszieht. Die Nudelreste für die Schweine, Gemüseschalen und Salat für die Ziege. Nur die Körner für die Hühner und die Pfauen fehlen noch; die dürfen die Kinder gleich selbst mahlen. Jeder darf ein paar Mal an der Kurbel der alten Mühle drehen, bis der Eimer voll ist.
Von einem Gehege zum nächsten führt der kleine Fütterungsparcours. Als erstes erhalten die Pfaue ihr Frühstück. Die darf man aber nicht weiter stören, denn sie sollen sich aufs Brüten konzentrieren: Das Team der Dreptefarm hofft auf Nachwuchs. Also weiter zu den Hühnern mit dem besonderen Namen. „Weiß einer von Euch, warum die ‚Westfälische Totlegehühner‘ heißen?“, fragt Tjark. Sofort werden wilde Theorien aufgestellt und wieder verworfen. „Weil sie tote Eier legen?“ – „Legen die auch Eier, wenn sie tot sind?“ Beides ist falsch. Tjark erklärt, dass die Hühner mit dem unheimlichen Namen einfach ihr ganzes Leben lang Eier legen, bis zu ihrem Tod. Das unterscheidet sie von normalen Hühnern, die nur zwei bis drei Jahre ihres Lebens überhaupt Eier legen. Wieder etwas gelernt.
Großer Respekt vor Ziegen und Gänsen
An jeder Station fragt Tjark in die Runde, was die Viertklässler über die betreffenden Tiere alles schon wissen. Ein Kaninchen kennen alle, gleich drei Finger gehen hoch bei der Frage, wer von den Kindern eins zu Hause hat. Pablo, das dicke Meißner Widderkaninchen, wird ausgiebig gestreichelt. „Der ist ja riesig!“ – „Und total weich!“ Die Kinder sind begeistert.
Vor der Ziege und den Gänsen haben sie schon deutlich mehr Respekt als vor den flauschigen Kaninchen. Während die beiden Jungs aus der Gruppe sich bei der Ziegenfütterung vorerst lieber im Hintergrund halten, frisst Coco, die Thüringer Waldziege, den Mädchen aus der Hand. Coco ist momentan die einzige Ziege auf der Dreptefarm, bekommt aber bald Verstärkung: Sie ist trächtig.
„Bist du schon mal gebissen worden?“ wird Tjark im nächsten Gehege gefragt. Anlass sind die aufgeregt hin- und herlaufenden Gänse, die dem Kinderbesuch noch nicht ganz über den Weg trauen. Die Antwort: „Klar, wenn man jeden Tag so viel mit den Tieren zu tun hat wie ich, kann man schon mal gezwickt werden!“ Zum Beweis schnappt sich Tjark einen Ganter, hält ihn fest und zeigt ihn den Kindern. „Guckt mal, was der für Zähne hat! Wollt Ihr ihn mal streicheln?“ Ein paar Mutige trauen sich und streichen mit den Händen vorsichtig über das weiße Gefieder. Der Ganter ist nur mäßig begeistert, also lässt Tjark ihn wieder frei. Kurz plustert sich der Ganter auf und watschelt schließlich davon. Nachtragend ist er nicht.
Dass Natur nicht nur Leben bedeutet, sondern auch den Tod umfasst, lernen die Grundschüler im Hühner- und Gänsegehege ebenfalls. Plötzlich zeigt eins der Mädchen auf einen kleinen Unterstand: „Da liegt ein totes Huhn!“. Jetzt ist Pädagogik gefragt: Tjark stellt in aller Seelenruhe einen großen Eimer in die Sichtachse zwischen Kinder und Huhn. Woran das Huhn gestorben sein könnte, weiß er auch nicht: „Ich sehe mir das Huhn nachher an“, verspricht er und auch, dass er es ordentlich begraben wird. „Das kommt eben vor, wenn so viele Tiere da sind, dass auch mal eines stirbt.“
Nach einer Stunde ist die Fütterungsrunde der Haustiere vorbei, auf die Schüler wartet schon das nächste Abenteuer: Die Erforschung des Teichs mit seinen Fischen, Libellen und Larven. Und der Tag auf der Dreptefarm hat gerade erst begonnen.
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