: Genau an diesem Ort ist es passiert
Kiez-Touristen Auf seiner „Krimi-Tour“ führt Reverend Roosen durch ein St. Pauli aus vergangenen Zeiten: Zwischen Opiumhöhlen und Mordschauplätzen berichtet er von den legendären Zeiten auf dem Kiez. Die Faszination des Bösen mischt sich mit einer großen Portion Kiezromantik
von Annika Lasarzik
Früher Abend in St. Pauli. Dämmerung legt sich über den Stadtteil, durch die Talstraße weht ein kalter Wind. Reverend Roosen, groß, hager, schwarzer Mantel, bleibt vor einer Toreinfahrt stehen. „Und da hat er gelegen, im eigenen Blut“, sagt er. Er zeigt mit dem Daumen über seine Schulter, rüber zum Innenhof. Pause, Blick in die Runde. Fünf junge Männer schauen den Tourguide erwartungsvoll an. Heute deutet nichts darauf hin, dass der karge Hof mit dem Blumenbeet und dem abgestellten Fahrrad an einer Mauer einmal der Schauplatz eines Bandenmordes war. Doch wenn der Reverend erzählt, mit tiefer, kräftiger Stimme weit ausholt, dann spielen sich längst vergangene Verbrechen noch einmal vorm inneren Auge ab. Genau hier ist es passiert: Fünf Revolverschüsse beendeten 1993 das Leben des Zockers Bahri Berisha. Erschossen vom berüchtigten „Albaner-Clan“. Denn der versteht keinen Spaß, wenn es um Spielschulden geht. Der Reverend fasst sich an die Brust, taumelt ein paar Schritte nach hinten, als er den Tod von Berisha nachstellt. Eine gute Portion Theatralik gehört zur „Krimi-Tour“ dazu.
Der Mord in der Talstraße: Nur eine von vielen Geschichten, die der Reverend, der eigentlich Ekkehart Opitz heißt, an diesem Abend zum Besten gibt. Auf seinem Stadtrundgang führt er durch ein St. Pauli, das so wohl nur noch in Erinnerungen und Legenden existiert. Hafenpanorama, Seemannskneipen und bunte Leuchtreklamen werden zur filmreifen Kulisse blutrünstiger Verbrechen.
Heute ist die Reisegruppe eher klein, die Besucher kommen aus der Schweiz. Thomas ist begeistert von der Tour. „Es ist einfach spannend zu wissen, dass das Böse an jeder Ecke lauern kann. Auch in der Kneipe, in der man gerade ein Bier trinkt. Krass!“ Seine Augen weiten sich. Die Faszination des Bösen, der abgründigen Halbwelt, in der alles möglich scheint und eigene Gesetze vorherrschen: Das macht einen Reiz der Tour aus. Während Tourguide Opitz mit großen Schritten durch die schmalen Seitenstraßen der Reeperbahn voranschreitet, an jeder zweiten Ecke Halt macht und eine neue Anekdote erzählt, verändern sich die Blicke der Touristen. Verranzte Hauseingänge, spärlich beleuchtete Ecken, ein verrammeltes Fenster: Überall könnte sich der nächste Tatort verbergen.
Die Tour ist wie ein Zickzacklauf durch die Vergangenheit. Opitz erzählt von den Anfängen des Eros-Centers in den Sechzigerjahren, davon, wie in den Zwanzigerjahren Chinesen Opium in Kellern der Schmuckstraße kochten. Auf dem „Hamburger Berg“ wird es blutig: In Kneipen wie dem „Goldenen Handschuh“ und dem „Elbschlosskeller“ war einst der berüchtigte Serienmörder Fritz Honka Stammgast, hier suchte er sich seine Opfer aus. Einen Frauentorso soll Honka jahrelang in seiner Wohnung aufbewahrt haben. Opitz wird selbst zum Mörder, wenn er erzählt. Mit weit ausgestrecktem Arm lässt er ein imaginäres Messer immer wieder hinuntersausen, bis die Leiche zerteilt ist. Die Touristen schmunzeln, stecken die Hände noch tiefer in ihre Hosentaschen. Ein Mann aus der Gruppe schaut verstohlen in die dunklen Fenster der nächsten Kneipe.
Ist es die Lust die am Gruseln, die die „Krimi-Tour“ besonders macht? Alle Geschichten leben auch vom Mythos des alten St. Pauli: Von einer Zeit ohne Designer-Hochhäuser und Bierbikes auf den Straßen. Aber mit kleinen Spelunken, schummrigen Gassen und vor allem mit klaren Verhältnissen auf dem Kiez. Opitz erzählt von den großen Schlachten des Nachtlebens, von Revierkämpfen, die Rocker und Luden noch auf offener Straße austrugen. Die Verbrechen von heute spart der Tourguide aus. „Heute ist das alles viel komplizierter, die großen Banden funktionieren inzwischen wie GmbHs“, sagt Opitz nach seiner Tour. Faszinierender sei der Blick in die Vergangenheit. Und der endet in den frühen Neunzigerjahren.
Kiezromantik und Nostalgie liegen vor allem über jenen Geschichten, die das Rotlichtmilieu betreffen. Opitz spielt dabei mit gängigen Klischees: Harte Kerle wie „Lackschuh-Dieter“ und „Neger-Waldi“ hätten sich damals eben noch auf „Gentlemen Agreements“ berufen, Wilfried Schulz, berüchtigte Kiezgröße der Achtzigerjahre, wird zum „Elder Statesman“. Und die Mädchen, die oft wohl eher unfreiwillig anschaffen gingen, sprächen heute noch von den „besten Zeiten ihres Lebens“. Am Ende der Tour ziehen die Touristen gelöst weiter in die Partynacht. In ihren Augen das Abenteuer: Hier auf dem Kiez ist alles möglich, alles kann passieren. Das Abschalten nach so viel Mord und Totschlag gelingt, schließlich liegen diese Verbrechen schon weit zurück. Drogenschmuggel, Auftragsmorde, Psychopathen, die Frauen abstechen: Der Blick in menschliche Abgründe ist im Rückblick besser zu ertragen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen