: Verletzte russische Seele in Marzahn
Politikum Der Fall um ein angeblich vergewaltigtes Mädchen ist das am stärksten diskutierte Thema in der russischen Community Berlins. Kreml-Medien heizen die Stimmung an. Warum das in Marzahn auf fruchtbaren Boden fällt – ein Erklärungsversuch
von Marina Mai
Der russische Außenminister Sergej Lawrow widmet sich in Moskau vor der Presse einer 13-jährigen Berlinerin. Lisa, so heißt das Mädchen aus einer russlanddeutschen Familie, soll Mitte Januar von einer „Horde orientalischer Flüchtlinge“ entführt und 30 Stunden lang vergewaltigt worden sein. So lautet der Vorwurf, der seit zwei Wochen durch sehr tendenziöse Berichte der staatlichen russischen Medien geistert.
Reichen die Moskauer Interessen jetzt nicht nur bis zur Krim, sondern auch bis zur russischen Seele in Marzahn?
Die Polizei dementiert sowohl Entführung als auch Vergewaltigung. Fakt ist: Das Mädchen verschwand am 11. Januar. Gut einen Tag später tauchte sie wieder auf. Was zwischenzeitig geschah, ist Gegenstand von Ermittlungen und Spekulationen. Aus Gründen des Persönlichkeitsrechts der 13-Jährigen äußerte sich die Polizei zunächst gar nicht. Das kann man als ungeschickt bezeichnen.
„Lisa, wir sind mit Dir“ und „Stoppt Emigrantengewalt“ stand auf Plakaten, mit denen russischsprachige Berliner letztes Wochenende vor dem Kanzleramt demonstrierten. 700 Demonstranten waren gekommen. Organisator war das Internationale Konvent der Russlanddeutschen, eine Organisation, die bisher nicht in Erscheinung getreten ist. Aber selbstverständlich fühlte sich von so viel Flüchtlingsabwehr auch der Berliner Pegida-Ableger „Bärgida“ angezogen. Es war bereits die zweite Demonstration. Eine Woche zuvor hatten überwiegend Russlanddeutsche gemeinsam mit einzelnen NPDlern vor einem Einkaufszentrum in Marzahn demonstriert. Verwandte des angeblich vergewaltigten Mädchens trugen mit hochemotionalen Reden zur aufgeputschten Stimmung bei. Die Videos machten im Netz Karriere.
Nach den Demonstrationen ließ sich die Staatsanwaltschaft dann doch einige Details zum Vorfall entlocken: Sprecher Martin Steltner geht davon aus, dass die 13-Jährige freiwillig mit einem oder mehreren Männern mitging – und dies wohl nicht zum ersten Mal. Dabei soll es zu einvernehmlichem Sex gekommen sein. Aufgrund des geringen Alters von Lisa wäre das eine Straftat: sexueller Missbrauch. Die Männer, gegen die sich die Ermittlungen richten, sind keine Flüchtlinge, stellt Steltner klar. Sie wurden in Berlin geboren, haben türkische Wurzeln.
Katharina Dang ist Pfarrerin einer evangelischen Gemeinde in Marzahn, zu der überwiegend Russlanddeutsche gehören, und erzählt, dass der Fall Lisa gegenwärtig das am stärksten diskutierte Thema in ihrer Gemeinde sei – hereingetragen durch die Kreml-Medien. „Die schauen sie ohnehin, weil in vielen Familien sowieso Russisch gesprochen wird.“ Dass sie den russischen Medien mehr Glauben schenken als deutschen Behörden, sei laut Dang allerdings eine neue Erscheinung. „Als der Ukraine-Konflikt begann, war meine Gemeinde noch sehr gespalten bezüglich der Glaubwürdigkeit von Putin. Mit dessen Eingriff in den Syrienkonflikt hat sich das Blatt gewendet.“ Und viele Russlanddeutsche meinen: Die Aufnahme von Flüchtlingen durch Deutschland sei falsch und naiv. Alexander Reiser, langjähriger Vertreter der russlanddeutschen Landsmannschaft im Vertriebenenverband, wird in der FAZ mit einer anderen Erklärung zitiert, warum russischsprechende Marzahner den Kreml-Medien so viel Glauben schenken: Von den etwa 30.000 Spätaussiedlern im Bezirk seien nur die Hälfte „deutschstämmig oder Menschen, die schon lange Deutsch sprechen. Die andere Hälfte seien Ehepartner, die weiterhin russische Medien mehr nutzten als deutsche.“
Das Problem dahinter: Jahrelang wurde und wird in Berlin die Integration der Spätaussiedler dem Bund der Vertriebenen und dessen Protagonisten aus der russlanddeutschen Landsmannschaft überlassen. Die geht davon aus, dass Russlanddeutsche vor allem Deutsche sind und hierher kamen, um als Deutsche unter Deutschen zu leben. Dass auch Nachfahren der einst von Katharina der Großen nach Russland geholten Menschen russisch oder kasachisch sozialisiert wurden und sich von Trachtenbrauchtum nicht angezogen fühlen, ignoriert man weitgehend. Dass Deutschland eine multikulturelle Gesellschaft ist, scheint beim Vertriebenenverband auch noch nicht angekommen zu sein. Und die Familienangehörigen der Russlanddeutschen, die selbst keine deutschen Wurzeln haben, gehen den Vertriebenenverband schlicht nichts an.
Dennoch gab Berlin unter Eberhard Diepgen und auch in den ersten Jahren von Rot-Rot die Gelder für die Integration der Russlanddeutschen vor allem dem Vertriebenenverband, dessen russlandeutscher Landsmannschaft und dessen Protagonisten wie Alexander Reiser. 2005 wurde Reiser in der taz von SPD- und Linken-Politikern kritisiert, er missbrauche seine Funktionen in Marzahn für die Rekrutierung der Spätaussiedler für die CDU und die russlanddeutsche Landsmannschaft.
Sergej Lagodinsky von der jüdischen Gemeinde, zu der viele russischsprachige Berliner gehören, weist darauf hin, dass auch unter russischsprachigen Juden der Fall Lisa viel diskutiert wird. „Ich habe da Hunderte besorgte Mails bekommen. Die Zuwanderung der Flüchtlinge verunsichert beide russischsprachige Gemeinden.“ Als Grund macht er aus, dass „eine osteuropäische oder sowjetische Erziehung zu nationalstaatlicherem Denken“ führe.
Lagodinsky kritisiert, dass russischsprachige Zuwanderer in der Öffentlichkeit kaum vorkommen, obwohl die Gruppe zahlenmäßig mit der türkischen vergleichbar wäre. „Russlanddeutsche kommen nicht einmal in der Statistik vor, weil sie ja einen deutschen Pass haben. Sie erleben da einen Widerspruch zwischen dem Selbstbild, dem zufolge sie oft Deutsche sind, und dem Fremdbild, das bis zu Sprüchen mit dem deutschen Schäferhund reicht.“ Wenn Menschen, die sich von deutschen Politikern und Medien vernachlässigt fühlen, plötzlich von russischen Medien und Politikern wahrgenommen werden, so Lagodinsky, „ist es nur natürlich, dass viele dem auch Glauben schenken.“
Im Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf herrscht die Befürchtung, dass sich die Stimmung weiter aufheizen könnte. Viele Einwohner seien derzeit nicht offen für eine sachliche Debatte, meint ein Sprecher. „Alles, was wir jetzt sagen, könnte als weiterer Versuch der Vertuschung wahrgenommen werden. Und das wollen wir natürlich nicht.“
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