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Fiktiver Ausnahmezustand

Audiowalk Die Kuppel des Reichstags ist ein schöne Bühne: vor allem, wenn man wie dieRegisseurin Nicole Oder vom Heimathafen Neukölln gerne einen Politthriller inszenieren will

Mit dem Audiowalk in der Reichstagskuppel Foto: Seldeneck

von Laura Aha

Ein klirrend kalter Wintertag. Pulvriger Schnee bedeckt das Dach des Berliner Reichstagsgebäudes, warme Sonnenstrahlen lassen die oberste Schneeschicht zu einer Eiskruste verschmelzen und tauchen die gläserne Kuppel in ein gleißend helles Licht. „Seien Sie vorsichtig“, zischt es. Eine bedrohliche Stimmung liegt in der Luft, die eisig durch die Glaslamellen der Kuppel pfeift. Eine spanische Touristengruppe mit Audio­guides steigt andächtig lauschend den geschwungenen Aufgang empor, immer höher in die Kuppel, mit Blick über die Stadt. Ich folge ihnen hinauf.

„Stadt der Sehenden“

„Die Stadt ist unter Quarantäne“, murmelt es verschwörerisch in meinem Ohr. „Haben Sie weiß gewählt?“, fragt eine anklagende Stimme, wie bei einem Lügendetektortest. In der Ferne sieht man den Hauptbahnhof. Angeblich soll ein Anschlag auf ihn verübt worden sein, man mutmaßt, initiiert von der Regierung selbst. Beim Blick in den Plenarsaal überhöre ich das interne Gespräch einer offensichtlich betrunkenen Kanzlerin, die sich verzweifelt mit ihren Ministern berät. „Dies ist ein Schlag gegen die Demokratie.“

Das utopistische Szenario ist Teil des Audiowalks „Stadt der Sehenden“, den die Theatermacherinnen und Theatermacher des Heimathafen Neukölln inszeniert haben. „Stell dir vor, es ist Wahl und alle gehen hin. Aber keiner gewinnt“, heißt es auf dem Flyer, der mir zu Beginn zusammen mit einem MP3-Player, einer Fleecedecke und einem Sitzkissen in die Hand gedrückt wird. Weiterführende Anweisungen gibt es nicht.

„Es gibt keine festen Instruktionen, wie man die Geschichte richtig zu hören hat. Während des Walks sieht man das Kanzleramt, man kann in den Plenarsaal gucken, auf den Bahnhof, das sind alles Orte, die auch im Stück vorkommen. Die Fixpunkte sucht sich jeder individuell“, erklärt Nicole Oder, die für die Adaption des Hörspiels und die Konzeption des Audiowalks „Stadt der Sehenden“ die künstlerische Leitung und Regie übernahm.

Inspirieren ließ sich Oder durch den gleichnamigen Roman des portugiesischen Autors José Saramago. In dessen fiktiver Stadt führt der ungewöhnliche Ausgang der Kommunalwahlen einen Ausnahmezustand herbei. Von 100 Prozent wählten 83 Prozent weiß. Resignierte Enthaltung oder stummer Wählerprotest? Absurder Zufall oder doch geplanter Coup, zur bewussten Destabilisierung der Regierung? Vonseiten der Politik breitet sich Unbehagen aus, öffentliches Handeln ist gefragt – doch wie soll man reagieren? Die zentrale Geschichte der Parabel trifft einen empfindlichen Nerv. Das vermeintlich stabile demokratische System wird mit legalen Mitteln unterwandert. Die Frage, wie schnell sich die Mechanismen der Demokratie aushebeln lassen, steht unweigerlich im Raum.

Bespitzelungen, Spionageaffären, Flucht – der Zuhörer ist mittendrin

„Die ursprüngliche Idee dahinter war die Frage, was eigentlich aktuell mit unserer Demokratie passiert“, erläutert Nicole Oder. Die Thematik des 2004 erschienenen Romans erscheint in der Tat aktuell wie nie. „Das Stück ist im Laufe seiner Entstehung, etwa durch die Anschläge in Paris, für mich nur noch virulenter geworden. Im Stück gibt es beispielsweise einen Ausnahmezustand, der für mich vorher eher eine Art Gedankenkonstrukt war. Plötzlich wurde er in Brüssel tatsächlich ausgerufen und rückte so nahe an unsere Lebenswirklichkeit heran, dass man auf einmal konkrete Bilder dazu im Kopf hatte.“

Um das Eintauchen in die Geschichte für den Zuhörer noch plastischer zu gestalten, wählte das Team für seine Vorführung den Ort in Berlin, an dem das politische Chaos sich im Ernstfall wirklich abspielen würde: das Reichstagsgebäude. Heimliche Bespitzelungen und Spionageaffären, beharrlich schweigende Bürger, Massenflucht und die Abschaffung der Politik – der Zuhörer ist mittendrin.

Eine Stadt gerät in den Ausnahmezustand, ohne Gesetze und Autoritäten. Doch ist die selbst gewählte Freiheit dem staatlichen Schutz wirklich vorzuziehen? Welche Werte bleiben, wenn das System zu bröckeln beginnt? Und welche Mittel sind legitim, um diese sogenannten Grundwerte zu schützen? Etwa eine Stunde lang dürfen die Zuhörer des Audiowalks sich frei in der Kuppel bewegen und live „vor Ort“ sein, wenn die Demokratie in der „Stadt der Sehenden“ aus den Fugen gerät.

Info: www.stadt-der-sehenden.de.

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